: Neuer NS-Prozess?
Seit zehn Jahren ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des SS-Massakers an 560 Kindern, Frauen und alten Männern im toskanischen Bergdorf Sant' Anna di Stazzema. Jetzt, so hat Kontext aus Justizkreisen erfahren, stehen die Ermittlungen kurz vor dem Abschluss
von Hermann G. Abmayr
Am kommenden Sonntag gedenken die Menschen hoch oben in den Bergen der Toskana, ganz in der Nähe des Marmorortes Carrara, wieder des Massakers vom 12. August 1944. Kurz nach sechs Uhr morgens umzingelten damals vier Kompanien der Waffen-SS das Dorf Sant' Anna di Stazzema. Die Panzergrenadiere der Division „Reichsführer SS“ trieben die Bewohner zusammen und warfen Handgranaten in die Menge. Die Überlebenden erschossen sie. Dann brannten die Soldaten die Häuser nieder und verschwanden. 560 Zivilisten waren tot, das jüngste Opfer war gerade 20 Tage alt.
Der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg wurde der Fall erst 1996 bekannt, berichtet der heutige Leiter, Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm. Sein Vorgänger hatte damals eine Anfrage von Interpol erhalten. Zwei Jahre zuvor waren belastende Akten über deutsche Kriegsverbrechen im „Schrank der Schande“ in Rom gefunden worden. 34 Jahre lang hatte sie die italienische Militäranwaltschaft versteckt, um die Integration Westdeutschlands in die Nato nicht zu gefährden. Gegen die vielen damals noch lebenden Tatverdächtigen ermittelten dann zunächst nur die Italiener. „Die Zentrale Stelle hat damals lediglich Fragen beantwortet“, sagt Schrimm.
Häußler hat ordnerweise Dokumente bekommen
Ermittelt hat Schrimm erst ab 2002. Zusammen mit einem Ludwigsburger Kollegen war er eine Woche lang bei der Militärgeneralstaatsanwaltschaft in Rom, um Informationen über deutsche Kriegsverbrechen in Italien zu bekommen. Später hat man ordnerweise Dokumente kopiert und sie dem Stuttgarter Staatsanwalt Bernhard Häußler übergeben. Er war als Nachfolger von Schrimm in Württemberg zuständig für NS-Verbrechen. Mittlerweile gilt diese Zuständigkeit für ganz Baden-Württemberg. Der Stuttgarter hat den Fall nach Angaben von Schrimm deshalb bekommen, weil unter den Tatverdächtigen mindestens zwei Männer aus dem Land waren: Ludwig Göring aus Karlsbad und Georg Rauch aus Rümmingen. Aber zu einer Anklage hat es Häußler bis heute nicht gebracht, obwohl er den Fall bereits 2002 offiziell übernommen hatte. Bewegung hat es nur in der Aktenlage gegeben. In Ludwigsburg ist sie auf acht Bände angewachsen, in Stuttgart sind es weit mehr.
Der italienische Militärstaatsanwalt Marco di Paolis wollte nicht so lange warten. Er hat seine Ermittlungen – auch mithilfe des LKA in Stuttgart – bereits 2005 abgeschlossen. Seine Beweise: Zeugenaussagen von Überlebenden, belastende Schriftstücke und das Geständnis des SS-Rottenführers Ludwig Göring (Jahrgang 1923). Er hatte die Tat als Einziger zugegeben und andere SS-Schergen belastet. 2005 verurteilte das Militärgericht in La Spezia alle zehn Angeklagten in Abwesenheit zu lebenslanger Haft. Darunter auch einen ehemaligen Kompaniechef, den SS-Untersturmführer Gerhard Sommer. Der 90-Jährige lebt in Hamburg und erfreut sich nach Auskunft der Anwältin Gabriele Heinecke bester Gesundheit. Heinecke vertritt Enrico Pieri, einen der Überlebenden des Massakers. Er hatte als kleines Kind 27 Familienangehörige verloren.
Die italienischen Urteile sind mittlerweile rechtskräftig. Seit 2007 liegt ein europäischer Haftbefehl vor, doch die Bundesrepublik lehnte eine Auslieferung ab, unter anderem, so Schrimm, weil die Deutschen in Abwesenheit verurteilt wurden. Deshalb hat Italien 2009 versucht, das Urteil von La Spezia in Deutschland vollstrecken zu lassen. Ebenfalls vergeblich.
Wie viele Männer der Waffen-SS, die in Sant' Anna gewütet haben, noch leben und verhandlungsfähig sind, wollen die Justizbehörden nicht mitteilen. Immerhin müsste der älteste Täter heute hundert Jahre alt sein. Bekannt ist nur, dass die SS-Unterscharführer Alfred Schöneberg aus Düsseldorf (Jahrgang 1921) und Ludwig Heinrich Sonntag aus Dortmund (Jahrgang 1924) mittlerweile gestorben sind. Auch die Sprecherin von Landesjustizminister Rainer Stickelberger (SPD) verweigert jede Auskunft. Grund: laufendes Verfahren. Im Übrigen sehe der Minister in seiner Funktion als Dienstherr „derzeit keinen Anlass für eine allgemeine Bewertung der staatsanwaltschaftlichen Sachbearbeitung dieses Ermittlungsverfahrens“. Journalisten sollten sich deshalb an die zuständige Staatsanwaltschaft wenden.
Aber auch der leitende Oberstaatsanwalt Häußler will keine Fragen beantworten. „Ich möchte Sie gerne auf Anfang September vertrösten“, lässt er ausrichten. Denn man könne „nicht ständig Wasserstandsmeldungen abgeben“. So Häußlers Sprecher auf die Frage, wie viele der Beschuldigten noch leben.
Wie alt NS-Täter werden können, zeigte jüngst der Fall des Massenmörders Martin Sandberger. Der frühere Einsatzgruppenleiter im Baltikum war vor zwei Jahren in einem luxuriösen Altenheim im Alter von 98 Jahren gestorben. Er lebte jahrzehntelang in Stuttgart, quasi vor der Haustür von Bernhard Häußler. Hätte Schrimm gewusst, dass Sandberger in Stuttgart lebt, hätte er sofort den Staatsanwalt informiert, erklärte der Leiter der Zentralen Stelle nach Sandbergers Tod. Doch davon habe er erst aus der Zeitung erfahren.
Wenn Schrimm in den vergangenen Jahren in den Medien zitiert wurde, dann vor allem wegen John Demjanjuk, dem Wachmann des Vernichtungslagers Sobibor, der in München 2011 wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Bernhard Häußler machte in dieser Zeit Schlagzeilen, weil seine Abteilung zwei Jahre lang versucht hat, einen Versandhändler aus dem Rems-Murr-Kreis verurteilen zu lassen, der Artikel mit einem durchgestrichenen Hakenkreuz vertrieben hatte. Begründung: Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole. Das Verfahren endete vor dem Bundesgerichtshof mit einer Niederlage für Häußler.
Der umstrittene Strafverfolger ist eben für vieles zuständig. Neben NS-Verbrechen hat er sich um den Staatsschutz und Brandstiftungen zu kümmern, aber auch um Verfahren gegen Richter, Polizisten oder Abgeordnete. So war Häußler auch mit dem Fall Stefan Mappus befasst. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hatte sich trotz etlicher Anzeigen lange Zeit geweigert, gegen den früheren Ministerpräsidenten und seine Helfer wegen des umstrittenen EnBW-Deals Ende 2010 zu ermitteln. Mittlerweile hat die Wirtschaftsabteilung das Verfahren übernommen.
Bundesweit bekannt geworden ist Häußler im Zusammenhang mit den Protesten gegen Stuttgart 21. Die Gegner des Tiefbahnhofs werfen ihm Einseitigkeit vor und haben eine Petition gestartet, in der sie seine Abberufung fordern. Darin verweisen sie auch auf die lange Ermittlungsdauer im Falle des Massakers von Sant' Anna. Häußler wiederum kontert mit dem Hinweis, seine Behörde werde durch fast 1.500 Anzeigen und Ermittlungsverfahren in Sachen S 21 in Atem gehalten.
Auf eine Woche mehr oder weniger kommt es nicht an
Auch die italienische Justiz ist unzufrieden mit der deutschen Langsamkeit, genauso wie die wenigen Überlebenden von Sant' Anna und ihre Familien. Unstrittig ist, dass die Taten der deutschen Division „Reichsführer SS“ in dem toskanischen Bergdorf „objektiv grausam“ waren. Entscheidend für eine Anklage sind jedoch die Beweise für die „subjektiven Mordmerkmale“: niedrige Beweggründe oder Grausamkeit.
Immerhin: Jetzt scheint das Verschleppen ein Ende zu haben. Wie Kontext aus Justizkreisen erfuhr, stehen die Ermittlungen kurz vor dem Abschluss. Dafür spricht, dass das Landeskriminalamt in der ersten Jahreshälfte einen umfangreichen Bericht fertig gestellt und an Häußler weitergeleitet hat. Auch der Sprecher von Generalstaatsanwalt Klaus Pflieger bestätigt, dass sich das Verfahren in der „Endbearbeitung“ befinde. Es käme jetzt aber „auf eine Woche mehr oder weniger“ nicht an.
Sollte Häußler tatsächlich bald zu einer Abschlussverfügung kommen, muss er sich unter anderem an zwei aktuellen Gerichtsurteilen orientieren: an dem Hamburger Engel-Urteil und dem Urteil gegen Josef Scheungraber (Jahrgang 1918) aus Ottobrunn, das 2010 vom Bundesgerichtshof bestätigt wurde. Das Landgericht München hatte Scheungraber zu einer lebenslangen Haft wegen zehnfachen Mordes und versuchten Mordes verurteilt.
Die Präzedenzfälle Scheungraber und Engel
Der Fall ähnelt dem des Massakers von Sant’ Anna. Scheungraber hatte im Sommer 1944 als Führer einer Wehrmachtskompanie den Befehl zu einer Racheaktion gegen Zivilisten im toskanischen Falzano di Cortona gegeben. Die Soldaten trieben elf Italiener in ein Haus, um es anschließend zu sprengen. Als Mordmerkmal attestierte das Gericht dem inzwischen 93-jährigen niedrige Beweggründe. „Ähnlich könnte Staatsanwalt Häußler im Fall Sant’ Anna argumentieren“, sagt die Anwältin Gabriele Heinecke.
Der Stuttgarter Oberstaatsanwalt könnte sich aber auch auf den Fall des SS-Sturmbannführers Friedrich Engel (Jahrgang 1909) berufen. Der Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Genua hatte 1944 als Vergeltung für einen Partisanenangriff Massenerschießungen angeordnet. Der „Schlächter von Genua“ wurde deshalb 2002 in Hamburg zu sieben Jahren Haft verurteilt. Doch der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf, da das Landgericht Hamburg die „subjektive Grausamkeit“ nicht ausreichend bewiesen habe.
Man darf also gespannt sein. Im Falle einer Anklage bekäme Stuttgart wohl das letzte große Gerichtsverfahren gegen NS-Täter. Sollte das Verfahren eingestellt werden, sind massive Proteste in Italien und Deutschland absehbar. Insbesondere in Stuttgart – wegen Bernhard Häußler.