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Archiv-Artikel

Ein dunkler Keller

SCHULD Grass, Jandl, Seghers: Luchterhand war einer der wichtigsten Verlage der Bundesrepublik. Ermöglicht hatte diesen Aufstieg der Verleger Eduard Reifferscheid – auch durch seine Machenschaften in der NS-Zeit

Das sagt Luchterhand

■ Interesse an Aufklärung: Der Verleger des Luchterhand Literaturverlages, Georg Reuchlein, hat in Reaktion auf die Bitte um eine Stellungnahme zu den Recherchen spätestens bis zum übernächsten Tag der taz am Mittwoch dies geschrieben: „Wir bitten um Verständnis, dass wir in der Kürze der Zeit kein Urteil über die Richtigkeit Ihrer Recherchen, von deren Ergebnissen wir heute zum ersten Mal erfahren, abgeben können. Wir legen auf jeden Fall größten Wert auf die lückenlose Erforschung und Aufarbeitung der Geschichte des Luchterhand Verlags, dies gilt insbesondere und ausdrücklich auch für die Epoche der NS-Zeit. Daher messen wir Ihren Recherchen große Bedeutung bei und sind an deren genauen Ergebnissen und Quellen sehr interessiert.“

VON PHILIPP GESSLER

Zwei Herren sitzen auf einer kleinen Bühne und reden darüber, wie es ist, ein Theaterstück zu schreiben. Es ist Sommer im Jahr 2012. Der eine ist der Schriftsteller John von Düffel, 45 Jahre alt, der aussieht, als würde er jede Woche einen Marathon schaffen. Daneben Klaus Siblewski, 62, gesetzter, ein renommierter Lektor mit Nickelbrille. Sie fachsimpeln im Berliner Buchhändlerkeller über das „Drama, ein Drama zu schreiben“. Im Luchterhand Literaturverlag haben sie darüber gemeinsam ein Buch geschrieben. Der Buchhändlerkeller, der gar kein Keller ist, sondern ebenerdig in einem Altbau liegt, will Autoren mit ihren jüngsten Werken für Lesungen gewinnen – seit 1967. Auch Günter Grass hat hier schon gelesen.

Der Luchterhand Verlag ist ein traditionsreiches Haus, das heute Autoren wie Kerstin Hensel oder Johanna Adorján herausgibt. Die ganze Atmosphäre in diesem Buchhändlerkeller atmet Luchterhand: Liebe zur Literatur und linksliberale Toleranz, älter gewordenes Bürgertum, Intellektualität. Vor allem weiße Haare sind zu sehen. Grass hat jahrzehntelang alle seine Werke bei Luchterhand veröffentlicht, Klaus Siblewski war früher dort Lektor. Spätestens 1959, seit der Publikation von Grass’ „Blechtrommel“, die auch eine Art Aufarbeitung der NS-Zeit war, galt Luchterhand neben Suhrkamp als der wichtigste linke Qualitätsverlag Westdeutschlands. Luchterhand, das war jahrzehntelang so etwas wie der Buchhändlerkeller der Bundesrepublik. Doch es gibt eine sehr düstere Ecke in diesem Keller. Es ist die bis heute unerzählte Geschichte des langjährigen Luchterhand-Verlagschefs Eduard Reifferscheid, der den Druckereibesitzer Otto Heinrich Scholz in der NS-Zeit eiskalt überlistete – und so den Aufstieg Luchterhands erst möglich machte.

Reifferscheid wurde von den prominentesten Literaten der Nachkriegszeit verehrt, nicht zuletzt als ein gemäßigter Linker, der irgendwie ein Nazi-Gegner gewesen zu sein schien. Er wurde 1899 als Sohn eines Gutsverwalters in der Nähe von Chemnitz geboren. Reifferscheid starb 1992, hochgeehrt. Der medienscheue Intellektuelle, Weinkenner und Lebemann führte Luchterhand in dessen größte Zeit. Zu Reifferscheids Autoren und Bewunderern gehörten neben Grass unter anderem Ernst Jandl, Jurek Becker und Christa Wolf.

Aber sie hatten ja keine Ahnung.

In den Briefen, die Reifferscheid an den früheren Waffen-SS-Mann Grass schrieb, findet sich nur eine einzige, kurze Notiz über die eigene Rolle in der Nazizeit. Am 14. Februar 1974 schreibt der Verleger: „Über das Ausmaß meines Opportunismus im 3. Reich kann ich nachträglich keine Liste fertigen, ich fürchte aber, sie hätte eine bestimmte Länge. Wäre das anders, lebte ich nicht mehr.“ Der Brief ist in Berlin gut verwahrt, in den weißen Ordnern des Grass-Archivs in der Akademie der Künste.

Hinter der Andeutung verbirgt sich das traurige, böse Spiel, das der Luchterhand Verlag und sein Prokurist Reifferscheid in der NS-Zeit und den frühen Jahren der Bundesrepublik mit dem Berliner Buchdrucker Otto Heinrich Scholz und seiner jüdischen Lebensgefährtin Meta Müller gespielt haben.

Es war eine Art Arisierung, die der Luchterhand Verlag nie aufgearbeitet hat. Weil man wusste, dass er die Grundlage des Aufstiegs des Verlages war? Weil dieses dunkle Kapitel den Mythos des linken, progressiven Verlages zerstört hätte?

Die böse Geschichte beginnt mit einer Liebe: In den zwanziger Jahren werden der Berliner Kaufmann Otto Heinrich Scholz und Meta Müller ein Paar. Ab 1927 leben sie zusammen. Aber schon wenige Jahre später, ab 1935, verbieten die Nationalsozialisten diese Liebe. Scholz betrachten sie als „Arier“, Meta Müller als Jüdin. Rassenschande, sagen die Nazis.

1933 gründet Scholz seine eigene Buchdruckerei: Otto-Heinrich-Scholz-Druck. Der Betrieb läuft gut. Scholz hat bald ein Vermögen von 300.000 Reichsmark, sein Jahreseinkommen in dieser Zeit wird er später auf etwa 50.000 Reichsmark schätzen. Das Unternehmen ist so ertragreich, dass er sich 1936 eine Villa in Berlin-Dahlem kaufen kann – dort zieht er mit Meta zusammen. Sie verloben sich heimlich.

Die Villa wird ständig polizeilich überwacht, wie Nachkriegsakten es schildern. Immer wieder wird das wohlhabende Paar im antisemitischen Stürmer verhöhnt, Scholz wird im Juli 1938 für seine „freundliche Einstellung gegenüber dem Judentum“ angegriffen. Sie nennen ihn „Judenknecht“. 14-mal wird er zwischen 1935 und 1939 von der Gestapo verhört, wie er nach dem Krieg schreibt.

In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wird Scholz verhaftet. Auch Meta Müller landet in Gestapo-Haft. Sie sei, schreibt sie am 27. April 1962 an das Kammergericht Berlin, durch die Misshandlungen „zum Krueppel geworden“. Das habe auch das Entschädigungsamt anerkannt. Sie könne sich seitdem nur noch „muehsam an zwei Stoecken fortbewegen“.

Aus Angst vor den Nazis schläft Scholz nach dem Pogrom drei Wochen in der Druckerei. Meta Müller flieht nach England. Er beschließt, seiner späteren Frau zu folgen. Seine Firma muss er zurücklassen. Er habe es nicht geschafft, sie zu verkaufen, wird er nach dem Krieg an die Wiedergutmachungskammer Berlin schreiben.

Im Frühjahr 1939 versucht Scholz, eine Druckerei in Großbritannien aufzubauen. Um seinen Berliner Betrieb nicht vollends zu verlieren, entschließt er sich 1939, einen neuen Gesellschafter in sein Unternehmen aufzunehmen, Hermann Luchterhand.

Ob Luchterhand NSDAP-Mitglied war, ist unklar. Der Literaturwissenschaftler Gunther Nickel behauptete dies 2003 in einem Aufsatz zum Luchterhand Verlag. Auf der Homepage des Verlages steht darüber aber kein Wort, und auch in den einschlägigen Archiven findet sich keine NSDAP-Mitgliedsnummer.

Seinen kleinen Verlag gründet Luchterhand 1924 mit einem Freund. Sie beginnen, zunächst in einem Hinterzimmer, Lohnsteuertabellen, juristische Literatur, Formblätter und andere Vordrucke zu produzieren. Ende 1933 treffen Eduard Reifferscheid und Luchterhand aufeinander. Reifferscheid hatte in Leipzig Jura studiert, ein Volontariat in einem Verlag gemacht und zwölf Jahre lang Erfahrung „in allen Sparten des Buchhandels“ gesammelt, wie er in einem Aufsatz zur Verlagsgeschichte 1975 schreiben wird.

Der winzige Luchterhand Verlag liegt damals im ersten Stock eines Hauses in der Oranienburger Straße 48/49 in Berlin-Mitte, direkt über einem Gemüsehändler. Dort wird Eduard Reifferscheid Prokurist und übernimmt Anteile in Höhe von 30 Prozent.

Der heutige Luchterhand Literaturverlag mit Sitz in München gehört zur Verlagsgruppe Random House, also zu Bertelsmann. Im Jahr 1936 zieht sich Hermann Luchterhand zugunsten seines Sohnes Heinz ins Privatleben zurück, „aus gesundheitlichen Gründen und wegen der bedrückenden politischen Verhältnisse“, wie es auf der Verlagshomepage bis Montag hieß – diese Aussage wurde nach der Bitte der taz um eine Stellungnahme zum Fall Reifferscheid gelöscht. Der erhielt damals eine Generalvollmacht.

Aber war es wirklich ein Rückzug wegen der „bedrückenden politischen Verhältnisse“?

Man kann daran zweifeln, denn die Formulierung stammt wohl von Reifferscheid selbst, der dies genau so in einer Rückschau auf die Verlagsgeschichte, 1975 erschienen bei Luchterhand, notiert. Er nennt Hermann Luchterhand darin einen „Liberalen“, mit dem er 1933 übereingekommen sei, zu versuchen, „ohne liberale Grundsätze aufzugeben, das 3. Reich, dem beide eine Frist von ein bis zwei Jahren gaben, zu überstehen“.

Reifferscheid betont weiter, er habe sich mehrfach vor der Gestapo verantworten müssen. Der Vorwurf: Er habe Juden begünstigt. Wirklich? Über Luchterhand senior und sich selbst schrieb Reifferscheid auch: „Beide hatten die ihnen wiederholt angebotenen Mitgliedschaften in der Partei und deren Untergliederungen abgelehnt.“

Frühjahr 1939. Luchterhand will expandieren. Scholz muss verkaufen. So kommen die beiden zusammen.

Unangemessener Betrag

Am 3. Mai 1939 schließen sie einen Vertrag: Luchterhand wird Gesellschafter der Druckerei. Scholz bringt seinen gesamten Maschinenbestand und die „Inventarien“ der Druckerei ein, während sich Luchterhand verpflichtet, Scholz dafür 160.000 Reichsmark zu zahlen. So steht es in den Akten. Um den Betrieb „nicht ganz sich selbst zu ueberlassen“, habe man jemanden gesucht, gibt Scholz an, der „wenigstens mit einem ganz unangemessenen Betrage die Aufsicht uebernehmen wuerde“.

Für Luchterhand junior und seinen Verlagsleiter Reifferscheid ist das ganze offenbar ein Schnäppchen. Sie profitieren davon, dass die Nazis Scholz gejagt und vertrieben haben. Es sei ein „erzwungener Vertrag“ gewesen, stellt der „Treuhänder der Amerikanischen, Britischen und Französischen Militärregierung für zwangsübertragene Vermögen“ in einem Schreiben vom 8. Juli 1950 fest. So steht es in den Akten des Berliner Landesarchivs. Die „Veräußerung“ an Luchterhand sei „eine Entziehung“ gewesen, die „auf jeden Fall“ durch Zwang veranlasst worden sei, schreibt ein anderer Gutachter. Ein Gericht bestätigt die Auffassung 1955: Das Rechtsgeschäft vom 3. Mai 1939 habe sich offensichtlich „aus den genannten Verfolgungsmassnahmen ergeben“.

Das Scholz’sche Unternehmen in der Johanniterstraße 5 in Berlin-Kreuzberg muss recht eindruckvoll gewesen sein: Das Gebäude ging vom Keller über ein Erdgeschoss mit einer Setzerei, dem eigentlichen Druckmaschinenraum, einer Buchbinderei und einer Stereotypie bis in den vierten Stock. Dazu kamen eine Garage, außerdem Büros für Angestellte und den Chef. Das ergibt sich aus der Aufstellung eines Sachverständigen nach der Bombardierung des Betriebes im November 1944. Scholz-Druck hatte 61 Maschinen.

Allein eine Maschine, eine Zweitourenschnellpresse, war 1947 einer Akte im Berliner Landesarchiv zufolge noch 24.000 Reichsmark wert. Die 160.000 Reichsmark, die Scholz 1939 von Luchterhand erhielt, waren also ein Schnäppchen. Der Deal erscheint so als eine Art Arisierung ohne Juden.

Das Geld Luchterhands für Scholz wird 1939 auf ein Konto überwiesen – aber Scholz kommt nicht mehr ran. Er flieht Ende Juni 1939 nach England. Obwohl Scholz einen Bevollmächtigen für sich einsetzt, wird keinerlei Gewinn aus dem Unternehmen mehr an ihn weitergeleitet. Schlimmer noch: Heinz Luchterhand, der Sohn Hermanns, der nun im Betrieb entscheidet, spielt gemeinsam mit Reifferscheid offensichtlich ein noch dreckigeres Spiel.

„Vielen Leuten war es allgemein bekannt, dass der damalige Prokurist und heutige Mitinhaber des Luchterhand Verlages Herr Reifferscheid und Herr Luchterhand jr. der Gestapo Mitteilungen ueber unsere Verhaeltnisse machten, wodurch unser gesamtes Vermögen beschlagnahmt wurde“, schreibt Scholz später an die Wiedergutmachungskammer.

Im April 1941 wird Scholz ausgebürgert und sein Vermögen beschlagnahmt. Er schreibt, nach seinen Informationen seien aus seinem Vermögen „ungefaehr Mk. 250 000.-“ eingezogen worden. Schon bevor Scholz ausgebürgert wurde, hatte Luchterhand gegen seinen Mitgesellschafter geklagt. Luchterhand habe, so schreibt Scholz nach dem Krieg, „von dem schwebenden Ausbürgerungsverfahren Kenntnis erlangt“. Die Klage gegen Scholz zielt „auf Ausschliessung aus der Gesellschaft“. Luchterhand wollte zudem vom Gericht festgestellt wissen, dass er zukünftig berechtigt sei, „das Geschäft mit Aktiven und Passiven zu übernehmen“, also alleinverantwortlich zu sein.

Der Trick gelingt: Die Nazi-Richter des Landgerichts Berlin geben Luchterhand recht. Scholz ist draußen. Aufgrund einer Anordnung des Reichsinnenministeriums vom 22. Januar 1942 wird das ganze Vermögen von Scholz endgültig eingezogen. So verdienen auch die Nazis daran: Luchterhand muss dem NS-Reich die ehemals Scholz’schen Unternehmensanteile wieder abkaufen. Dass sowohl Reifferscheid als auch Heinz Luchterhand die Not von Scholz vorsätzlich ausnutzten, legen zwei Zeugenaussagen nahe, die Scholz’ Rechtsanwalt in einem Schreiben vom 7. Oktober 1957 anführt: „Zwei Tage, nachdem Herr Luchterhand in die Firma eingetreten war“, so schreibt der Anwalt, forderte Reifferscheid „Frau Scholz auf, den Betrieb zu verlassen mit den Worten: ‚Machen Sie, dass Sie rauskommen, Sie haben hier als Jüdin nichts mehr zu suchen.‘“ Außerdem zitiert der Anwalt eine Zeugin: „Eines Tages nach der Auswanderung des Antragstellers äusserte sich der Antragsgegner Heinz Luchterhand zu dem damaligen Bauinspektor Max Leonhardt: ‚Jetzt habe ich es aber dem Scholz bei der Gestapo eingebrockt.‘“

Als der Betrieb von Luchterhand und Reifferscheid, immer noch unter dem Namen Scholz-Druck firmierend, im Laufe des Jahres 1944 ausgebombt wird, zeigt sich das Nazi-Reich spendabel. Das nun rein „arische“ Unternehmen bekommt eine Bombenentschädigung. Im Inventar der Firma findet man auch eine Kopfskulptur des Führers. Für Eduard Reifferscheid und Heinz Luchterhand beginnt nach dem Krieg der eigentliche Aufstieg ihres Verlages – und das große Lügen. Schon 1946 erhält Reifferscheid von der französischen Militärregierung eine Lizenz zum Wiederaufbau des Unternehmens. Über sich selbst schreibt Reifferscheid dazu später in der dritten Person: „Seine Anerkennung als Antifaschist erleichterte die Arbeit, das soll nicht verkannt werden.“ Auffällig schnell verkauft Reifferscheid den größten Teil der übrig gebliebenen Maschinen weiter – offenbar auch, um Spuren zu verwischen.

Eduard Reifferscheid wurde nach dem Krieg von den prominentesten Literaten verehrt Haben Grass und Reifferscheid wirklich nie über ihre Schuld in der NS-Zeit gesprochen?

Weltweites Renommee

Und Luchterhand selbst floriert nun. Reifferscheid verwirklicht 1954 seinen Traum. Er gründet eine literarische Abteilung – und im Laufe der Jahre erreicht diese Sparte ein „weltweites Renommee“, wie die Frankfurter Rundschau 1972 schreibt. Viele der Autorinnen und Autoren, die nach dem Krieg Rang und Namen haben, werden bei Luchterhand veröffentlicht: von Günter Grass über Anna Seghers bis Gabriele Wohmann. Reifferscheid ist für die Autoren so etwas wie der coole Onkel mit der dicken Brieftasche, geschäftstüchtig, literaturverliebt, höflich, klug, etwas links. Ein Guter aus der bösen Nazi-Generation.

Der Buchwissenschaftler Ingmar Weber schreibt, Luchterhand habe das Image „eines progressiven, linken, der aufklärerischen Literatur verpflichteten Verlages“ gehabt. Ähnlich sieht es auch der Literaturwissenschaftler Nickel. Er hält fest, der Luchterhand Verlag habe geholfen, „einem kritisch-emanzipatorischen, den Idealen der Aufklärung verpflichteten Denken in der Bundesrepublik“ Ausdruck zu verleihen – wie das im gleichen Umfang sonst nur dem Suhrkamp Verlag gelungen sei. Der wohl größte Coup Eduard Reifferscheids ist die Herausgabe der „Blechtrommel“ von Günter Grass im Jahr 1959. Weltliteratur. Im Archiv der Akademie der Künste, wo Grass sein Archiv untergebracht hat, entsteht bei der Lektüre des umfangreichen Briefverkehrs zwischen dem Autor und seinem Verleger das Bild einer Freundschaft: Man tauscht sich ausführlich aus über die deutsche Politik, über gesundheitliche oder eheliche Probleme und schreibt ausführliche Kondolenzbriefe, wenn ein Angehöriger gestorben ist.

Es gibt ein schönes Foto, das Grass neben Reifferscheid zeigt: ein gemütlicher Mann mit Bauch und Schiebermütze. Sie stehen vor Kafkas Grab in Prag. Reifferscheid und Grass fahren zusammen in Urlaub. Sie trinken Wein, sie spielen Skat, oft bis zum Morgengrauen. Und sie reden viel. Nur das Thema NS-Zeit bleibt, zumindest in ihrer Korrespondenz, allenfalls ein Randthema. Haben Grass, der jüngst „mit letzter Tinte“ seltsame Gedanken zu Israel verfasst hat, und Reifferscheid wirklich nie über ihre Schuld in der NS-Zeit gesprochen? Fiel jemals das Wort „Waffen-SS“ – oder „Scholz“?

Während für Luchterhand und Reifferscheid nach dem Krieg der Aufstieg im Frieden beginnt, geht der Kampf für Scholz weiter. Schon im Krieg hatte er sich mit Meta im südenglischen Luton nieder gelassen. Von hier aus strengt er nach 1945 Rechtsstreite gegen Luchterhand und gegen alle weiteren Unternehmen an, die die Scholz’schen Maschinen nach dem Krieg erworben haben. Insgesamt prozessiert der ausgebootete Unternehmer von Südengland aus in zehn Verfahren um eine Entschädigung oder die Rückgabe der Maschinen. In seiner neuen Heimat hatte er selbst wieder eine Druckerei („Dragon Press“) gegründet. Die Prozesse ziehen sich laut der Akten, die im Berliner Landesarchiv auf meist brüchigem Papier vorliegen, bis zum 28. August 1961 hin. Das zehrt. Scholz verzweifelt. An das Kammergericht schreibt er 1956: „Sie werden verstehen, dass ich, nachdem man mir vor mehr als 17 Jahren als vollkommen unschuldiger Mensch meine Existenz genommen hat und ich nun schon 10 Jahre um meine Berichtigung mit der Hergabe all meiner Geldmittel gekaempft habe, dass es nun einmal Zeit ist, dass etwas fuer mich getan wird.“

Schon 1946 beginnen die ersten Prozesse von Scholz in Berlin – bis endlich am 28. August 1961, 22 Jahre nach Zerstörung seines Lebenswerks, ein Vergleich gelingt: Scholz nimmt die Rückerstattungsansprüche gegen die so genannten „Maschinenkäufer“ zurück. Dafür zahlt Luchterhand an Scholz 125.000 DM. Zwischenzeitlich hatte Scholz, so schreibt seine Frau am 27. April 1962, „mit Einwilligung des Herrn Luchterhand“ vom Berliner Senator für Finanzen 20.000 Mark erhalten. Das ist alles. Meta betont, ihr Mann habe wegen der Anwaltskosten „viele Tausende Mark dafuer von einer harten Emigranten Existenz opfern muessen“.

Nach dem Vergleich müssen aber noch die Streitwerte der mittlerweile insgesamt zwölf Verfahren ermittelt werden. Das zieht sich hin. Erst am 10. Juni 1966 beschließt das Kammergericht in Berlin: Die Streitwerte betragen insgesamt 738.900 Mark – entsprechend hoch waren die Prozesskosten.

Ode an den Verleger

Diese dunkle Geschichte Luchterhands wurde nie erforscht, geschweige denn aufgearbeitet. Eine Magisterarbeit über die Frühzeit des Verlages, geschrieben 1973 in Straßburg, ist im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, wo sie lagern soll, nicht auffindbar. Der Literaturwissenschaftler Nickel hat sie eingesehen, fand darin aber offenbar nichts Aufregendes. Die Autorin der Magisterarbeit verweigert seit Monaten jeden Kontakt. Konfrontiert mit den neuen Erkenntnissen der taz zu Reifferscheid, erklärte der Luchterhand Literaturverlag am Mittwoch, von den Ergebnissen dieser Recherche „heute zum ersten Mal erfahren“ zu haben (siehe Kasten).

Als Reifferscheid im Mai 1979 achtzig Jahre alt wird, verfasst Grass in der Zeit eine Ode an seinen Verleger: Die Autoren liebten ihn, er sei unentwegt fortschrittlich, „ein Kapitalist mit jungsozialistischen Anwandlungen“: „Kein Management kann ihn ersetzen“, so Grass. „Wir Autoren gratulieren uns.“ Das englische Unternehmen von Scholz wird 1960 von einem Feuer stark beschädigt. Scholz’ Spur verliert sich im englischen Luton. Wann er gestorben ist, ist unklar. Meta Scholz stirbt am 22. August 1973. Die Ehe blieb nach den Recherchen der Stadtverwaltung in Luton offenbar kinderlos.

Reifferscheid stirbt am 21. Dezember 1992. Ein paar Jahre zuvor, am 20. Januar 1975, hatte ihm der damalige rheinland-pfälzische Kultusminister Bernhard Vogel (CDU) das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgehändigt. Vorgeschlagen hatte dies der Mainzer Landesvater. Der wird später Kanzler. Sein Name: Helmut Kohl.

Philipp Gessler, 45, ist taz-Reporter und Buchautor