wortwechsel
: Test der konservativen Ethik: Sterben lassen?

Corona fordert unsere Haltung zum Sterben, zum Tod – dem eigenen und dem der anderen. Viele sind schon vor Corona „unwürdig gestorben“. Geht es um ein möglichst langes Leben?

Intensivstation in Berlin: Ärztebesprechung zur Behandlung eines Covid-19 Patienten Foto: Fabrizio Bensch/reuters

„Leben retten ja, aber …“,

taz vom 2./3. 5. 20

Wie leben wir?

Lieber Tobias Schulze, vielen Dank für diesen Artikel und die Fragen, die du aufgeworfen hast. Wir könnten ja auch den motorisierten Verkehr oder den Alkohol abschaffen, um Leben zu retten, tun wir aber nicht ... Ich möchte noch einen Gedanken dazustellen: Ein Menschenleben ist unendlich viel wert – ja! Aber ein Menschenleben hat nicht nur eine „Länge“ – es hat auch eine „Tiefe“. Mir scheint oft, dass es nur darauf ankommt, das Leben zu verlängern, egal unter welchen Umständen. Um den Tod hinauszudrängen. Aber ist es nicht bedeutsamer, wie wir leben, nicht wie lange? Corona trifft vor allem Alte und Kranke. Wie gehen wir mit unseren alten, pflegebedürftigen Menschen um? Ist es uns wirklich wichtig, wie sie leben oder nur wie lange? Und was ist mit dem Tod? In unserer Gesellschaft steht er außen. Warum? Diese Fragen verstören vielleicht. Aber ich frage mich, ob wir uns nicht oft im Denken selbst Schranken setzen, ohne dies zu merken. Kornelia Renner, Dresden

Lockerungsübungen

Den Wert des Lebens diskutieren wir zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit: jetzt im Rahmen der Coronaschutzmaßnahmen, davor beim Thema „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ und im Rahmen der Abtreibungsdiskussion (§ 219a). Beim Thema Abtreibung möchten die Konservativen die potentiellen Mütter am liebsten mit vorgehaltener Pistole zum Austragen des Kindes zwingen. Das Recht des Kindes auf Leben sei unantastbar. Das Recht auf ein „Ich will nicht mehr“ möchten die Konservativen Patienten aber verweigern. Hier wird das Weiterleben zur Pflicht. Bei den Coronamaßnahmen wird die Minderheit der Risikopatienten vor der gesellschaftlichen Mehrheit geschützt. Oder sollte man nicht besser die wirtschaftlichen Interessen der Mehrheit vor den Risikopatienten schützen? Da kann man nicht früh genug mit intellektuellen Lockerungsübungen beginnen. Thomas Damrau, Böblingen

Wahrscheinlichkeiten

Meine Tochter (9 Jahre) fasste gestern die Sachlage so zusammen: Es geht um ein Virus mit grippeähnlichen Symptomen. Die Mehrzahl der Infizierten bleibt symptomlos. Die Mehrzahl der Erkrankten haben einen normalen Grippeverlauf. Die Mehrzahl derjenigen, die ins Krankenhaus müssen, kommen heil und genesen wieder heraus. Die Mehrzahl der Menschen, die sterben, hatten schwere Vorerkrankungen und waren im Schnitt über 80 Jahre. Deshalb müssen alle Menschen weltweit nun an den Folgen des „Shutdowns“ leiden? Ja, klingt doch logisch, oder? Mathias Wüntsch, Lüneburg

Ein gelungener Tod

In einen gelungenen Tod mündet nur ein gelingendes Sterben. Ein menschenwürdiges Sterben hat eine soziale Dimension, allerdings keine toxische Komponente, sondern nur eine Unterlassung der Maschinenbehandlung, verbunden mit der Intensivierung der Betäubungsmedizin beim sterbenden Patienten, der in einer möglichst schönen Umgebung – was eine Intensivstation mit Sicherheit nicht ist – Abschied von seinen Liebsten nimmt. Menschenwürdiges Sterben ist also ein Sterben unter Hospizbedingungen. Ein gelingendes Sterben an Covid 19 dürfte zumindest für die Betäubungsmedizin kein unlösbares Problem darstellen, und wenn das Abschiednehmen von geliebten Menschen noch möglich ist, sollte es natürlich stattfinden, auch wenn es nur hinter einer Schutzscheibe oder in Schutzkleidung erlaubt werden kann. So einfach die sterbeethischen Forderungen klingen, sind an Covid 19 viele Menschen einsam und oft qualvoll gestorben; es sind globale Maßnahmen nötig, damit das aufhört. Reiner Bergmann, Sankt Augustin

Welthungerhilfe?

Wieso gibt Gates so viel Geld für Impfkampagnen aus, aber nicht für den Hunger? Alle 10 Sekunden stirbt ein Kind an Hunger, und es kommt nichts in den Medien.

White-Beach auf taz.de

„Boris Palmer: Der Scharfmacher aus Tübingen“, taz vom 29. 4. 20

Empathische Isolation?!

Ist es empathisch, todgeweihte Schwerstkranke völlig zu isolieren, keinen Kontakt zu Angehörigen zuzulassen und an Maschinen einsam sterben zu lassen? Können wir noch akzeptieren, dass Menschen irgendwann sterben müssen, oder sehen wir darin nur noch einen „Fehler“? Boris Palmer ist vermutlich empathischer als alle, die auf jeden einschlagen, der den Lockdown infrage stellt. Wir sehen, dass kranke und alte Menschen trotz Lockdown nicht ausreichend geschützt werden. Dazu wäre nötig, sie nicht allein zu isolieren, sondern selbstverständlich mit ihren Kontaktpersonen. Dafür fehlen aber die Ressourcen, wenn man Milliarden für den Lockdown verpulvert.

Elisabeth Jalbert, Hamburg

Demagogisch verkürzt

Die Aussage von Palmer wurde demagogisch verkürzt. Er hatte thematisiert, ob es richtig sei, eine Weltwirtschaft vor die Wand zu fahren und damit den Hungertod von Millionen in der dritten Welt in Kauf zu nehmen, um das Leben unserer betagten MitbürgerInnen (zu denen ich auch zähle) im besten Fall etwas zu verlängern. Dazu darf es unterschiedliche Auffassungen geben. Leo Teuter auf taz.de

Klauselzynismus

Die Äußerungen von Schäuble wie auch Palmer sind – direkt, indirekt oder verklausuliert – folgendermaßen zu verstehen: „Liebe Gefährdete: ‚Leben ist lebensgefährlich!‘“. Wissen wir ja schon seit Erich Kästner; aber bei S. und P. klingt durch, dass sie bereit sind, das Lebensrecht bestimmter Menschen infrage zu stellen. Das ist zynisch. H. W. Heinrich, Bissendorf

Das Recht auf Leben

Vor genau 15 Jahren wurde bei mir ein Hirntumor festgestellt. Damals war ich 45 Jahre. Der behandelnde Chefarzt sagte, eine Operation wäre nicht angesagt. Damals habe ich den Fehler gemacht, mich auf diese Aussage zu verlassen. In dieser Situation war ich nicht in der Lage, mich an eine andere Klinik zu wenden. So bekam ich nur eine Bestrahlungstherapie mit den üblichen Schäden. Der nächste Arzt erklärte mir, dass ich noch zwischen drei Monaten und zwei Jahren zu leben hätte. (Dem habe ich verboten, je wieder in mein Zimmer zu kommen.) Im September 2005 wurde ich durch einen genialen Arzt in Mainz operiert. Er sagte, die Operation wäre für ihn verantwortbar, für mich zumutbar. Er fragte mich, was ich von meinem Leben noch erwarten würde. Ich sagte, dass ich nicht mehr beruflich tätig sein müsste, aber dass ich meine drei Kinder begleiten möchte und mit meinem Mann noch weiterleben wolle. Er sagte: Das könne er machen. Ich lebe mit einigen Einschränkungen und meine Familie muss damit zurechtkommen. Das geht mit Ärger oder Humor. Nun also kommt Boris Palmer und spricht Menschen, die älter oder sehr krank sind, das Recht auf eine Behandlung, das Recht auf Leben ab. Esther Zeymer-Krämer, Wanfried