EIN INTERESSANTES WERK REICHT WOHL NICHT, DIE WOLLEN IMMER NOCH DAS SEELENLEBEN OBENDRAUF : Fetisch gesprochenes Wort
VON ARAM LINTZEL
Öfter wird, auch an dieser Stelle, der Zwang zum Authentisch-Sein angeprangert. Was abstrakt klingt – wer zwingt da wen wozu? –, manifestiert sich unter anderem in der Allgegenwart des Interviews. Der Zeitpunkt, wann dieses Format einen Quantitätssprung ins Unerträgliche machte, lässt sich nicht genau bestimmen. Nur die Schleusenöffner sind bekannt: Leute wie Moritz von Uslar mit seinen „100 Fragen an“ oder Hans-Ulrich Obrist mit seinen „Interview-Marathons“, auch die Erfinder der inflationären „Protokolle“ a là „Ich habe einen Traum“ aus der Zeit sind haftbar zu machen. Außerdem kommt keine wichtige Ausstellung mehr ohne „Artist Talk“ aus.
Banaleren Varianten des O-Ton-Imperativs begegnet der freie Journalist in der alltäglichen Arbeit: Im Musikmagazin meiner Wahl ist es zum Beispiel nicht möglich, eine mickrige 2.000-Zeichen-Abhandlung über eine Band zu schreiben, ohne – so die redaktionelle Vorgabe – noch zwei bis drei Originalzitate der Musiker einholen zu müssen. Ob der Text dadurch besser wird? Egal. Was zählt, ist das Mehr an Authentizität.
Warum nur dieser Terror der O-Töne? Das Interview verspreche „Lebendigkeit, Zufälligkeit und Zwischenmenschlichkeit“, schreibt der Soziologe Heinz Bude in der aktuellen Ausgabe von Texte zur Kunst über den omnipräsenten Interview-Kurator Hans-Ulrich Obrist. Vor allem steht es wie kein anderes Format für Authentizität, Wahrheit und eine ganz besondere Intensität.
„Ein ehrliches Interview mit Dave Gahan“, wird auf dem Titel der aktuellen Interview-Ausgabe ein Gespräch mit dem Depeche-Mode-Sänger annonciert, und der neue Interviewband von Neil Strauss gewährt laut Ankündigung einen „intimen Einblick in das Seelenleben von Stars aus fast 40 Jahren Musik- und Filmgeschichte“. Das gesprochene Wort ist zum Fetisch geworden.
Die Schriftfeindlichkeit
In seiner Kritik des Phonozentrismus konfrontierte Jacques Derrida die dahinterstehende Annahme, dass das gesprochene Wort einen unvermittelten Zugang zur Substanz des Individuums gewähre. Anders als in der Schrift sei in der Stimme die Seele – so die kritisierte abendländische Auffassung – rein und unmittelbar gegenwärtig, Derrida sprach deshalb von einer „Metaphysik der Präsenz“. Diese zeigt sich längst als vulgäre Schriftfeindlichkeit.
Der Schriftsteller Rainald Goetz hat sich neulich bei der Pressevorstellung seines neuen Romans „Johann Holtrop“ darüber beschwert, dass nicht einfach Bücher rezensiert werden, sondern Autoren immerzu porträtiert und interviewt werden müssen. Goetz’ Kritik zielte auf den alltäglichen Authentizitätstest, welcher das Leben des Künstlers, Intellektuellen, Autors et cetera zur Beglaubigungsinstanz des professionellen Tuns macht.
Das Interview ist hier im wortwörtlichen Sinne ein Bewerbungsgespräch: Du magst ja ein guter Autor, Künstler, Musiker et und so weiter sein; damit wir dich aber in die Gemeinschaft der Relevanz aufnehmen, musst du schon mehr anzubieten haben. Erzähl uns Unglaubliches aus deinem Leben!
Das Interview ist der biopolitische Imperativ, maskiert als Fragekatalog. Das sozialkritische Potenzial, wie es etwa noch in Hubert Fichtes „St. Pauli Interviews“ eine Rolle spielte, ist verloren gegangen. Interview-Kings wie Hans-Ulrich Obrist oder Moritz von Uslar spulen ein Programm ab, ein Erkenntnisinteresse ist oft schwer zu erkennen.
Fairerweise ist dazu zu sagen, dass es für die Inflation des Interviews strukturelle Gründe gibt, vielen Journalisten fehlt einfach die Zeit, in Ruhe Bücher zu lesen, ein Interview geht schneller und lässt sich selbst ohne Vorkenntnisse abwickeln. Zugleich ist das Interview – siehe Obrist – eine prima Vernetzungstechnik, anders als beim einsamen Lesen und Schreiben in der Klause lernt man dabei wichtige Leute kennen. Der Interviewer fragt deshalb nicht frank und frei, er/sie gehorcht wie alle anderen dem Networkingdiktat des Neuen Kapitalismus.
Natürlich ist das Interview nicht immer böse. Es kann Menschen zum Sprechen bringen, die sonst vergessen worden wären. Oder es kann ein Sprechen gegen das Sprechen hervorbringen. Im Vorwort zu „Die Aufgaben des Geistes“, einer tollen neuen Zusammenstellung von Interviews mit dem Philosophen Georges Bataille, schreibt Rita Bischof, Bataille lege „noch im Sprechen den Akzent stets auf das Unaussprechbare“. Und Bataille selbst sagt in einem Gespräch, er schreibe, „weil ich das, was ich schreibe, nur mit Mühe sagen könnte“. Das geht an die Adresse der Interviewfanatiker: Es gibt sie noch, die Dinge, über die man nicht reden kann.
■ Aram Lintzel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist in Berlin