: „Mütter haben keine Lobby“
Die Bewilligungspraxis der Kassen hält Medizin-Soziologe Jürgen Collatz für willkürlich und eine volkswirtschaftliche „Sünde“, da der Staat kranke Eltern ersetzen müsse
taz: Die Therapieeinrichtung für Eltern behinderter Kindern in Mardorf ist gefährdet. Ist das wirklich so dramatisch?
Jürgen Collatz: Und ob. Sozialmedizinisch tragen die Mütter von behinderten Kindern die höchste Belastung überhaupt. Ein Schwerarbeiter auf dem Bau ist oft weniger beansprucht. Viele Kinder wären ohne die Hilfe ihrer Angehörigen nur bedingt lebensfähig. Das Therapiezentrum Mardorf besitzt eine besonders hohe Effektivität sowie eine überzeugende Effizienz bei der Behandlung von kranken Müttern. Ich bin überzeugt: Diese Therapieeinrichtung ist unersetzlich.
Ist es nicht aus Sicht der Kassen legitim, auf kostengünstigere Behandlungsformen zu verweisen und aus diesem Grund einen Kuraufenthalt abzulehnen?
Die betriebswirtschaftliche Kleinlichkeit, wie sie sich derzeit bei der Bewilligungspraxis zeigt, ist nicht nur ungesetzlich, sie ist auch volkswirtschaftlich eine Sünde. Ambulante Therapieformen ohne gleichzeitige Betreuung der Kinder wirken eher kontraproduktiv. Wenn eine Mutter aufgrund einer dauerhaften Erkrankung als Betreuungsperson ausfällt, wird das behinderte Kind nicht selten dauerhaft stationär aufgenommen. Das kostet mindestens 3.000 Euro im Monat. Sie können das gern auf 40 Jahre hochrechnen.
Die Kassen argumentieren, dass nicht alle Antragsteller tatsächlich auf einen Kuraufenthalt angewiesen sind.
Die Krankenkassen verlangen ein spezifisches Krankheitsbild, unser Forschungsverbund beweist die Notwendigkeit für eine Therapie. Die antragstellenden Mütter sind oft zu 100 Prozent behandlungsbedürftig. Trotzdem wird die Hälfte der Antragsteller abgewiesen. Das ist ein Skandal. Bedenklich ist zudem, dass die Hälfte der Widersprüche gegen einen ablehnenden Bescheid erfolgreich ist. Das beweist, dass in der Bewilligungspraxis viele Kassen und ihre medizinischen Dienste den Zustand der Mütter nicht berücksichtigen. Das erscheint willkürlich.
Was muss sich im Interesse der Patienten ändern?
Die Bewilligungspraxis muss auf den Prüfstand. Die Krankenkassen müssen den Bedürfnissen der Eltern gerecht werden und endlich die gesetzlichen Vorgaben einhalten. Dazu gehört, dass Antragssteller nicht auf andere Therapieträger verwiesen werden dürfen. Mütter haben keine Lobby. Das nutzen die Funktionäre der Kassen auf Kosten der Allgemeinheit kurzsichtig aus.
Interview: Dirk Misslisch