Kameltreiber in Arizona

Feministische trifft Migrantenperspektive: Im Roman „Herzland“ sucht Téa Obreht die Ursprünge des amerikanischen Traums

Es gab tatsächliche Kamele im Wilden Westen Foto: Elise Ortiou Campion/plainpicture

Von Thomas Winkler

Ausgerechnet die Sache mit den Kamelen, die surrealste von vielen surrealen Erzählideen von „Herzland“, beruht auf einer historisch verbürgten Begebenheit. Im Jahr 1856 importierte die U.S. Army mehrere Dutzend Kamele, die als Lasttiere bei der geplanten Erschließung des wüstenartigen Südwestens eingesetzt werden sollten. Der Bürgerkrieg beendete das Experiment mit dem „United ­States Camel Corps“, die Kamele wurden von der Armee wieder verkauft, manche freigelassen. Doch in freier Wildbahn konnten sich die Tiere nie etablieren. Das letzte Exemplar wurde 1891 in Arizona gesichtet.

Dort, in Arizona, und zu dieser Zeit hat auch Téa Obreht ihren zweiten Roman verortet, der in zwei miteinander verwobenen Handlungssträngen ein Kaleidoskop der Pionierzeit des amerikanischen Westens entwirft, aber dessen längst mystisch gewordener Erzählung mit heute immer noch ungewohnten Perspektiven – der feministischen und der migrantischen – neue Facetten abzugewinnen versteht.

Arizona ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal offiziell ein US-Staat, sondern bloß ein Territorium, ein rauer, menschenfeindlicher Ort aus Sand, Steinen und einer erbarmungslos scheinenden Sonne, in dem die die Gesetze machen, die genug Geld haben, um einen Sheriff zu bezahlen. Dort lebt Nora auf dem „letzten bekannten Fleck, danach nur noch Weiß auf der Karte“. Es hat seit Wochen nicht mehr geregnet, das Wasser ist streng rationiert, und Nora harrt aus auf ihrer kleinen Farm zusammen mit ihrer dementen, im Rollstuhl sitzenden Schwiegermutter, einer Hausangestellten und dem jüngsten, halbblinden Sohn. Nora ist abgehärtet und gestählt von den Umständen, sie glaubt, sie sei keine jener Frauen, „die das Leben nicht ertrugen, in das sie ihren Männern gefolgt waren“.

Diese Männer kommen meist nur in Erzählungen vor. Sie sind tot oder abwesend, nicht zuverlässig oder zumindest zwielichtig. Frau kann sich nicht auf sie verlassen, sondern muss selbst losziehen: Wasser holen, die Söhne vor Ärger bewahren, das Hausmädchen vor ihrer eigenen Dummheit schützen, sich gegen den Kapitalismus in Gestalt von Viehzüchtern wehren, das Städtchen vor der Bedeutungslosigkeit bewahren, vielleicht nicht gleich die Welt, aber doch dieses kleine Leben vor dem Zusammenbruch retten.

Parallel zu Noras Leben, das sich ausgehend von einem einzigen dramatischen Tag in inneren Monologen und Rückblenden entfaltet, hat Obreht die Geschichte von Lurie montiert. Der heißt eigentlich Djurić, kam als kleines Kind vom Balkan ins gelobte Land, wird Mitglied einer Räuberbande und wegen Mordes gesucht und findet schließlich Zuflucht als falscher Türke und Kameltreiber im Camel Corps der Army. Obreht lässt ihn seine verschlungene Geschichte erzählen als posthumen Bericht an Burke, sein geliebtes Kamel.

Die beiden Hauptpersonen, die sich, damit ist nicht zu viel verraten, niemals lebendig begegnen werden, eint eine Eigenschaft: Beide sprechen sie mit den Toten, beide werden von deren Bedürfnissen und Erwartungen getrieben. Dieser erzählerische Kniff führt zusammen mit der unwirklichen, wüstenartigen Szenerie und einer Zeit im Umbruch direkt in den magischen Realismus.

Ein „hässliches Pferd“

Téa Obreht: „Herzland“. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Rowohlt.Berlin, Berlin 2020, 512 Seiten, 24 Euro

Das erste Telefon des gottverlassenen Städtchens wird feierlich eingeweiht, eine nachgerade märchenhafte Apparatur für die knorrigen Westerner, und generell „vergeht kaum ein Tag, an dem die Zeitungen nicht irgendeine bemerkenswerte Entdeckung vermeldeten, die Wahrheiten auf den Kopf stellte“. Lurie und sein Kamel, der Türke und sein „hässliches Pferd“, werden auf ihren Reisen meist mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen und kleinkarierter Ablehnung begrüßt.

Mit Hilfe einer nur scheinbar simplen, aber vor Details und Schöpfungskraft schillernden und in ihren Landschaftsbeschreibungen und Charakterzeichnungen immer wieder an Cormac McCarthy erinnernden Sprache verschmilzt Obreht nicht nur die Erzählebenen und Perspektiven. Die 34-jährige Autorin, die in Belgrad geboren wurde und als Kind mit ihrer vor dem Bürgerkrieg auf dem Balkan flüchtenden Familie in die USA kam, verarbeitet auch die eigenen Erfahrungen mit ihrer alten und ihrer neuen Heimat.

In ihrem preisgekrönten Debütroman „Die Tigerfrau“ (2011) erforschte Obreht die Auswirkungen der Balkankriege auf die Psyche nicht einmal direkt Beteiligter – auch damals schon aus weiblicher Perspektive und mit den Mitteln des magischen Realismus. Nun wendet sie sich den Gründungsmythen ihrer adoptierten Heimat zu und macht sich auf die Suche nach den Ursprüngen des amerikanischen Traums – und vor allem seinen tatsächlichen Lebensumständen.

Das Ergebnis ist eher ernüchternd: Obrehts Protagonistinnen und Protagonisten kommen nicht hinaus über Arizona, bleiben stecken auf halben Wege ins Kalifornien geheißene Paradies. „Des Lebens Glück ist immer zu wenig, und das bisschen, das wir finden, interessiert keinen“, erzählt Lurie seinem Kamel. Das Kamel antwortet nicht, aber wird seinen Reiter noch immer tragen, auch wenn dessen Suche nach dem Glück längst sinnlos geworden ist.