berliner szenen
: Das Gerenne macht dich irre

Dünn ist die Wand zum Nachbarn. Als ich mich ins hinterste Zimmer auf das Sofa der Tochter zurückziehe, um Backgammon gegen den Computer zu spielen, höre ich die Ansprache der Kanzlerin durch die Wand mit. Der Nachbar räuspert sich, als Angela Merkel von der Verantwortung jedes Einzelnen in Zeiten von Corona spricht. Dann fängt an, was ich gern mit der chinesischen Wasserfolter vergleiche; bei diesem Martyrium tropft kaltes Wasser auf den Kopf, Wikipedia behauptet allerdings naseweis, die Wirksamkeit der Methode sei nicht nachgewiesen.

Wirksam ist die Berliner Trampelfolter vor allem, wenn sie in Altbauten zur Anwendung kommt, die nichts anderes sind als Trittschallgefängnisse. Vor hundert Jahren haben sie in Berlin nur halb solide gebaut, und wer das Pech hat, kinderreiche Nachbarn über sich zu haben, muss schon differentialdiagnostische Feinarbeit leisten, um herauszufinden, ob das stundenlange Gerenne der kleinen Jungs zu Symptomen führt oder doch das Virus. Der kleine Leon und der noch kleinere Luis haben die Lust an der Bewegung entdeckt. Sie üben wohl für einen Kindermarathon. Manchmal rapern sie mit einem Bobbycar durch die Wohnung oder krawummen auf einem kleinen Trampolin herum.

Ich habe schon mit der Mutter gesprochen, ob sie, nun ja, ihre lieben Kleinen nicht irgendwie einfangen oder bremsen könnte. Das versuchten sie ja, versicherte sie mir und schenkte mir später sogar einen „Anti-Stress-Kakao“ vom Bioladen. Ich trank den Kakao, fühlte mich aber auch durch selbigen gezogen, als die Trainingsgruppe zu einem neuen Dauerlauf mit Hüpfübungen ansetzte. Durch die Kita-Schließung läuft die Trampelfolter nun den ganzen Tag, weswegen ich beschlossen habe, Berlin in Richtung Unterleuten zu verlassen.

Markus Völker