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Neues aus der Fickt-Euch-Allee

Wenn die Welt sich aus Angst vor Viren einigelt und jeder Mensch eine Insel wird, helfen die drei von Grossstadtgeflüster, die Selbst-Isohaft als Hüpfburg-Aufenthalt zu deuten. Auftreten darf die Band, deren Keyboarder einst aus Bremen geflüchtet ist, konsequenterweise nicht

Von Benjamin Moldenhauer

Das erste, was ich von der Band Grossstadtgeflüster gehört habe, war das Stück „Ich muss gar nichts“, bei einem Konzert in der Schwankhalle vor 15 Jahren oder so. „Ich muss gar nix außer schlafen, trinken, atmen und ficken/ Und nach meinen selbstgeschriebenen Regeln ticken“. So eine schöne Behauptung von Autonomie ist momentan real noch weniger haltbar als sonst. Man muss gerade doch so einiges, will man zum Beispiel vor seinen Mitmenschen nicht als Arsch oder Volltrottel erscheinen: zwei Meter Abstand halten, Hände zwölfmal am Tag waschen, in die Armbeuge husten und alles.

Wenn man das Lied jetzt hört, wird also noch einmal klar, wie schnell sich der Höreindruck verändert, wenn die Rahmenbedingungen über Kopp gehen. Heißt in diesem Fall: Adoleszente Scheiß-drauf-Attitüde, ein wichtiges, bewahrenswertes kulturelles Gut, kommt in der jetzigen Pandemie-Phase eher komisch rüber. Auch deswegen vielleicht ganz gut, dass das Bremer Konzert von Grossstadtgeflüster im Schlachthof genauso verschoben wurde, wie alles andere. Irgendwann wird man sich dann vielleicht auch wieder ungebrochener an Musik erfreuen können, die sich die ewige Adoleszenz zum Ziel und als ästhetisches Programm gesetzt hat.

Das Trio Grossstadtgeflüster lebt und arbeitet in Berlin, der Stadt, in der ein Leben wie das, das in diesen Songs behauptet wird, noch vergleichsweise reibungslos gelingt, groteske Mietpreise hin, groteske Mietpreise her.

Zu dem alles in allem musikalisch recht störungsfrei abgemischten Crossover aus Electro und deutschsprachigem Hip Hop erzählt Sängerin Jen Bender in vielen der Songs implizit oder explizit davon, dass die belastende Wirklichkeit mal schön abhauen soll. Gerne auch in naheliegenden Klotzreimen: „Ich boykottiere dich, Realität/ Du bist es nicht wert, dass sich die Welt um dich dreht“, zum Beispiel. Aber immer wieder auch in robust-bezaubernden Wortspielen. Und was nicht passt, aber auch nicht weichen will, wird fröhlich wegdefiniert: „Du sagst: Das ist eine Zwangsjacke/ Ich sag: Das ist das schönste Kleid, das ich je anhatte/ Du sagst: Das sind Psychopharmaka/ Ich sag: Geiler Trip, is’da noch was da?“.

Zentrale Waffe im Kampf gegen die Realität, die „eine Farce“ und „völlig für den Arsch ist“: ein Hedonismus, der um die eigenen Grenzen weiß und sie gerade deswegen gezielt ignorieren will. „Du sagst: Das ist eine Gummizelle/ Ich sag: Es ist eine Hüpfburg“. Am Ende ist das, auch wenn der von Keyboarder Raphael Schalz und dem Schlagzeuger Chriz Falk fabrizierte Sound aufgekratzt daherkommt, Slackertum. Gefeiert wird in den Texten die eigene Couch und die Weltablehnung in der „Fickt-Euch-Allee“. Slackertum kann manchmal auch ein Versuch sein, nicht über die Maßen regiert und das heißt auch: nicht im klassischen Sinne erwachsen zu werden. Nicht, indem man anstrengenden Widerstand propagiert. Sondern, indem man so tut, als wären einem die Zumutungen der Erwachsenenwelt egal. In verschiedenen Ausprägungen: Man entzieht sich durch Autodestruktion (bei Nirvana zum Beispiel), indem man ein versponnenes Paralleluniversum entwirft (Pavement und viele, viele andere). Oder, aktuell: Man ist so verstrubbelt-verschlafen, dass man viele der Zumutungen einfach verpennt (Courtney Barnett).

Auch wenn die musikalische Linie, in der Grossstadtgeflüster stehen, eine ganz andere ist, hat die Band doch eine sehr Berlin-lastige Variante des Slackertums kultiviert: nachts zum Späti, lauwarmes Wegbier, viel zu viel rauchen, auch bei guter Laune immer ein bisschen schlecht gelaunt sein. Fluffiges Angepisstsein, drauf scheißen, was die andern sagen. Und natürlich die Kategorien, nach denen sich entscheiden soll, was sinnvoll und erwachsen ist, rundweg ablehnen. Aber ihnen in der Ablehnung eng verbunden bleiben. So ist das, wenn man sich an etwas abarbeitet. „Du hast dein Leben lang gelernt/ Ist plötzlich alles nichts mehr wert/ Komplett im Dunkeln, Angstschweiß, Arsch auf Grundeis/ (...) Ein lückenloser Lebenslauf, doch du bist noch gar nicht geboren“.

Die Musik von Grossstadtgeflüster ist nicht meine Tasse Tee, aber ich verstehe, warum das so viele toll finden und freue mich, dass die Band nach langen Jahren 2019 auf einmal durch die Decke gegangen ist. Was mich an ihr aber berührt, ist, dass man das alles einfach immer so weiter machen kann – dass die Adoleszenz in diesen Songs wirklich endlos verlängert wirkt. Raphael Schalz zum Beispiel ist inzwischen um die Vierzig. Das weiß ich deswegen, weil wir in Bremen in dieselbe Grundschulklasse gegangen sind.

Und die 1980er im Steintor/Ostertor, das war wirklich eine gute Zeit. Keine Pandemie in Sicht, der Kapitalismus drehte noch nicht völlig frei, und außer Tschernobyl hatten wir überhaupt keine Sorgen. Es gab schöne Langeweile, und nicht nur Angst. Wie sich das halt so anfühlt, im Rückblick.

Mit neun Jahren oder so war ich auf Raphaels Geburtstag eingeladen, und ich erinnere mich noch sehr gut (oder bilde mir das zumindest ein, vielleicht war es auch ganz anders), wie ich bei der Schnitzeljagd krachend gescheitert bin. Eine der Stationen war „eine Plastik“. Gemeint war die Skulptur „Ottilie Hoffmann“ am Ostertorsteinweg/Ecke Wulwesstraße, auf der die Kinder heute noch rumklettern. Ich hab damals, ahnungslos wie ich war, eifrig nach einem Stück Plastik oder einer Plastiktüte oder irgendsowas in der Art gesucht. Da waren dann am Ende, als ich eine halbe Stunde später als Letzter ins Ziel geschlichen kam, alle ganz erstaunt, dass ich das nicht wusste.

Das soll jetzt keine Geschichte über etwaige Bildungsgefälle oder so was sein. Die Eltern von Raphael, meine Eltern – alle haben sie studiert, Geistes- oder Musikwissenschaften. Ich hab mich beim Schreiben dieses Textes halt daran erinnert, war wieder gekränkt, und dachte, „Skulptur, Plastik, mir alles egal, ich muss gar nix außer schlafen, trinken, atmen und ficken, hahaha“.

Aber damals konnte ich das noch nicht denken, unter anderem weil es das Lied ja noch gar nicht gab. Heute sind Kritiker und Keyboarder, wie gesagt, um die Vierzig, und ewig geht das alles vielleicht wirklich nicht mehr gut.

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