: Frei von Zauber
Titelverteidiger FC Liverpool scheidet gegen Atlético Madrid bereits im Achtelfinale der Champions League aus. Auch wenn Trainer Klopp über den Gegner klagt, hat das Scheitern mehr mit dem eigenen Unvermögen zu tun
Aus Liverpool Hendrik Buchheister
Stadionsprecher George Sephton hatte gerade mit gewohnt ruhiger Stimme die Nachspielzeit durchgesagt, zwei Minuten würde es zusätzlich geben am Ende der ersten Halbzeit der Verlängerung im Achtelfinal-Rückspiel der Champions League gegen Atlético Madrid, als das Stadion an der Anfield Road in eine Schockstarre verfiel. Es war, als hätte jemand den Stecker gezogen. Bei diesem Jemand handelte es sich um Gäste-Stürmer Marcos Llorente, der mit seinem zweiten Tor des Abends den 2:2-Ausgleich herstellte und den FC Liverpool damit praktisch aus dem Wettbewerb schoss.
Nach der 0:1-Niederlage im Hinspiel und wegen der Auswärtstor-Regel hätte die Mannschaft von Trainer Jürgen Klopp noch zwei Treffer zum Weiterkommen gebraucht. Eine Operation, die bei allen Anwesenden den Glauben schwinden ließ, trotz der viel beschworenen Magie von Anfield. Liverpools Spieler ließen die Köpfe hängen, die Gesänge des heimischen Publikums verstummten. Nur noch Atlético-Fans waren zu hören.
Am Ende gewann das Team aus Spaniens Hauptstadt sogar 3:2 und sicherte sich damit das Vorrücken ins Viertelfinale, während Liverpool keine Chance mehr hat, den im vergangenen Frühjahr – ausgerechnet im Atlético-Stadion – errungenen Champions-League-Titel zu verteidigen, ganz unabhängig davon, wie es mit dem Wettbewerb angesichts der Coronakrise weitergeht. Liverpool verlor zum ersten Mal überhaupt ein Europapokal-Heimspiel unter Klopp, und zum ersten Mal scheiterte die Mannschaft unter dem einstigen Trainer von Borussia Dortmund auf internationaler Bühne in einer K.-o.-Runde mit Hin- und Rückspiel. Bei allen bisherigen Versuchen waren die Reds immer bis ins Finale vorgerückt, 2016 in der Europa League und in den vergangenen beiden Spielzeiten in der Champions League.
Klopp ist bekannt dafür, nur schwer mit Niederlagen umgehen zu können. Das gab er nach der Partie gegen Atlético sogar selbst zu, zwang sich aber, das Aus sportlich zu nehmen. „Wenn ich alle Dinge sagen würde, die mir durch den Kopf gehen, würde ich wie der schlechteste Verlierer der Welt aussehen, also höre ich hier auf“, sagte er. Ganz verbergen konnte er seinen Frust über die defensive Ausrichtung des Gegners dann allerdings doch nicht: „Ich verstehe nicht, warum sie diese Art von Fußball spielen.“ Dabei war es gar nicht die gefürchtete Mauertaktik von Diego Simeones Mannschaft, die dem Titelverteidiger das Weiterkommen kostete, sondern die Mängel bei der eigenen Chancenverwertung.
Liverpool spielte Atlético über weite Strecken an die Wand, gab 35 Schüsse ab und hatte eine Vielzahl bester Gelegenheiten – aus der Distanz und aus nächster Nähe, nach Flanken und nach ansehnlichen Kombinationen, mit dem Fuß, per Kopf und zweimal durch Sadio Mané sogar per Fallrückzieher. Doch was die Gastgeber auch versuchten, mehr als die beiden Treffer durch Georginio Wijnaldum und Roberto Firmino (43. und 94. Minute) brachten sie nicht zustande.
Das lag an fehlender Präzision und der herausragenden Leistung von Atléticos Torwart Jan Oblak. Simeone adelte ihn hinterher sogar zum Lionel Messi seines Teams. Bei den Reds dagegen patzte der Mann zwischen den Pfosten entscheidend: Adrián, der im Moment den verletzten Alisson vertritt, verschuldete den Anschluss zum 1:2 durch Llorentes erstes Tor in der 97. Minute, als er dem Gegner den Ball in den Fuß spielte. Der Treffer kippte die Partie. Das anschließende 2:2 entschied das Achtelfinale.
Jürgen Klopp
Dabei hatte Liverpool auf eine weitere magische Nacht von Anfield gehofft, um den Rückstand aus dem Hinspiel zu drehen, doch damit wurde es nichts. Von Zauberhaftem war der Auftritt der Heimmannschaft sehr weit entfernt, und das, obwohl Zuschauer zugelassen waren. Anders als zum Beispiel beim Dortmunder Aus bei Paris Saint-Germain. An der Stimmung lag es jedenfalls nicht, dass die Veranstaltung ernüchternd endete aus Sicht der Gastgeber.
Doch Liverpool wird das Ausscheiden in der Champions League verschmerzen können. Das liegt zum einen daran, dass es derzeit fraglich ist, ob der Wettbewerb wegen der Coronakrise fortgesetzt wird. Und zweitens ist die Saison auch so eine glanzvolle für den Verein dank der herausragenden Leistungen in der Premier League. Klopps Auswahl steht im Grunde schon seit Weihnachten als Meister fest und ist lediglich noch zwei Siege vom heiß ersehnten ersten Gewinn der nationalen Krone seit 30 Jahren entfernt.
Würde auch die Saison der englischen Liga abgebrochen werden, träfe das den FC Liverpool mehr als die Tatsache, dass Atlético dem Stadion an der Anfield Road im Europapokal den Stecker gezogen hat.
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