: „Ob die Anderen gucken oder peng“
ADIPOSITAS Krankhaft übergewichtige Menschen finden im Adipositas-Zentrum am Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf Hilfe. Eine Operation ist oft die letzte Möglichkeit. Der Weg dahin war für Regina Schulz schwierig. Bald will sie wieder Ski laufen
■ Fast 60 Prozent der Deutschen sind übergewichtig. Das geht aus der Nationalen Verzehrstudie II des Max-Rubner-Instituts von 2008 hervor.
■ Davon sind 37,4 Prozent übergewichtig, 20,8 Prozent adipös (krankhaft übergewichtig).
■ Als Erhebungsinstrument wurde der Body-Mass-Index (BMI) herangezogen. Dabei wird das Gewicht zur Körpergröße in Relation gesetzt (Gewicht in kg/Größe in m zum Quadrat).
■ Ab einen BMI von 25 oder höher gilt man als übergewichtig, ab über 30 als adipös.
■ 2,5 Millionen Menschen in Deutschland kommen für eine OP infrage, operiert werden im Jahr circa 5.000, das sind ungefähr 0,2 Prozent.
■ Bildungsferne Schichten sind laut der Studie eher betroffen als bildungsaffine Schichten.
VON ARNE SCHRADER
Ein Papierbändchen umschließt das Handgelenk, die Hände liegen gefaltet im Schoß. Sie strahlen Gelassenheit aus, lassen Regina Schulz friedlich wirken. So, als wäre alles getan, als wäre sie durch nichts aus der Ruhe zu bringen.
Auch nicht von der mehrstündige Operation morgen – eine Magenverkleinerung soll der 130 Kilo schweren 65-Jährigen das Leben wieder etwas einfacher machen. Der Eingriff in der Chirurgie des Adipositas-Zentrums im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) in Hamburg ist für sie der letzte Ausweg.
„Nachher muss ich zur Magenspiegelung, da habe ich mehr Respekt vor als vor der OP“, sagt die Rentnerin aus Wedel und legt ihre Brille behutsam auf die Tischplatte. Ihre blauen Augen schauen wach und freundlich, das weiße Haar ist kurz geschnitten und ein klein wenig zersaust. Schulz trägt eine beige Hose und ein Blumen-T-Shirt, sie war mal Schneiderin. Ihre Kleidung hebt sich deutlich von dem schwarzen, extrabreit gefertigten Stuhl unter ihr ab. „Ich bin froh, dass die mich in meinem Alter überhaupt noch nehmen“, sagt sie.
Mit ihrem Gewicht gilt Schulz hier als eher schlank. Trotzdem: Sie ist ein Teil der fast 60 Prozent in Deutschland, die offiziell als adipös, also krankhaft übergewichtig eingestuft werden.
„Es will bisher niemand so richtig wahrhaben, aber Fettleibigkeit ist für die Gesellschaft ein brutales Problem“, sagt Oliver Mann, der Direktor des Adipositas-Zentrums am UKE. Er verweist auf die anfallenden Sozialleistungen, die zu behandelnden Begleiterkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck und die Folgen für das Gesundheitssystem. Allerdings seien Dicke in der Gesellschaft immer noch stigmatisiert, oft heiße es, sie seien doch selbst schuld. „Das sind Raucher genauso, deren Bronchialkarzinom wird aber generell behandelt“, sagt Mann.
In der Regel ist ein Magenband, ein sogenannter Schlauchmagen oder ein Magenbypass der letzte Schritt bei der Behandlung von Fettleibigkeit. Denn zuvor müssen alle konservativen Behandlungsmöglichkeiten, in Form einer Bewegungs- und Ernährungstherapie, ausgeschöpft sein. Erst dann zahlt auch die Krankenkasse.
Regina Schulz hat diesen langwierigen Prozess hinter sich. Ihr erster Antrag wurde vor fünf Jahren abgelehnt, in diesem Jahr hat es nun geklappt. Ihre Abnehmversuche: Zahllose Diäten, Akupunktur, Spritzen in die Magengegend und Wassergymnastik gehörten dazu. Schulz trat denWeight Watchers bei und versuchte diverse Sportarten, doch die überzähligen Kilos gingen nicht wieder runter.
Ihre Probleme begannen mit der Geburt ihres letzten Kindes, dazu kamen wechseljahrbedingte Hormoneinnahmen und dass sie sich das Rauchen abgewöhnte. „Früher wog ich mal 65 Kilo. Zusammen mit meiner Freundin habe ich vor dem Spiegel im Petticoat Augenaufschlag geübt, meine Zeit war der Rock ’n’ Roll“, erzählt sie begeistert. Damals habe sie nicht über Essen nachgedacht, nicht darauf geachtet, doch es war kein Problem. Mittlerweile ist die Mutter von vier Kindern nach ein wenig Treppensteigen bereits außer Atem. Selbstbewusst ist Schulz dennoch: „Ob die Anderen gucken oder peng, mir ist das doch egal“, sagt sie.
Zu den Gründen für Fettleibigkeit zählen neben falscher, unausgewogener Ernährung auch gesellschaftliche Phänomene wie passive Freizeit vor dem Bildschirm, Stress oder fehlende Bewegung. Auch genetische Faktoren können eine Rolle spielen. „Es gibt keine Mangelsituationen mehr. Wenn wir wollten, könnten wir rund um die Uhr essen“, erklärt Stefan Wolter, ein Mitarbeiter am Adipositas-Zentrum. Im Zuge seiner Beschäftigung mit der Krankheit hat auch er das eigene Essverhalten überdacht, verzichtet nun auf Fertigprodukte. „Eigentlich ist die Prävention das beste Mittel, aber an welcher Stellschraube soll man drehen, es sind zu viele“, sagt der 33-Jährige und streicht sich über die Bartstoppeln.
Im UKE fühlt sich Schulz gut aufgehoben, das Adipositas-Zentrum ist erst dieses Jahr erweitert worden. Für die Zeit danach hat sie sich viel vorgenommen: „Wenn mir die Hosen passen, würde ich gern wieder Skifahren gehen. Mein Mann hat es mir gezeigt, wir sind jedes Jahr nach Zermatt in die Schweiz gefahren, da gibt es viele schöne Abfahrten.“
Mit der OP allein ist es allerdings nicht getan: „Sie ist nur eine Hilfe, danach müssen die Patienten sich, obwohl von uns in der Nachsorge betreut, auch eigenverantwortlich kümmern“, sagt Oliver Mann. Dazu gehöre eine Ernährungsumstellung genauso wie behutsam angefangener, regelmäßiger Sport. Die resultierenden Erfolge sind dann vielfältig: „Diabetes und auch die anderen Begleiterkrankungen vermindern sich oder gehen ganz zurück, die Medikamentenberge sind halb so groß“, erklärt der Direktor des Zentrums.
Regina Schulz hat diesen Weg noch vor sich, das Armband am Handgelenk wird aber schon bald ab sein. Stattdessen baumeln dort demnächst vielleicht die Schlaufen eines Skistocks.