: Erinnert wird, was schiefgeht
KUNST IN DER PHERIPHERIE In Toulouse findet das Kunstfestival „Printemps de Septembre“ statt
VON BRIGITTE WERNEBURG
Die 17 Videominuten von „Solo“ machen besorgt: Wie muss es um den Geisteszustand von Christian Marclay bestellt sein, wenn der 1955 in San Rafael, Kalifornien, geborene – und also erfahrene – Künstler 2008 eine solch fade, feuchte Männerfantasie ins Werk setzt? Wie um den des Galeristen Jay Joplin von White Cube in London, der sie finanziert? Vor allem aber, wie kommen der Leiter des „Printemps de Septembre“ in Toulouse, Christian Bernard und sein Kokurator Jean Max Colard, ganz ohne Not dazu, in „Solo“ einen erwähnenswerten Beitrag zu sehen, für den dreiwöchigen Kunstfrühling im Herbst, der mit Ausstellungen, Videoinstallationen, Konzerten, Performances und anderen Liveacts ein aktuelles Bild der zeitgenössischen Kunst in der französischen Provinz vermitteln will?
Man stelle sich also vor, ein junges Mädchen, das auffällig nach Kate Moss ausschaut, betritt einen Raum, in dem sie einen Verstärker und eine daran angeschlossene E-Gitarre vorfindet. Sie zupft ein bisschen auf dem Musikinstrument herum, und weil sie – wie auch anders, sie ist ja ein Mädchen – nicht Gitarre spielen kann, zieht sie sich eben aus – wie das Mädchen, wenn sie nicht weiterwissen, ja bekanntlich tun – und funktioniert das Ding in ein Sexspielzeug um, in einen Riesendildo, der nun wirklich anständig brummt und jault. So weit, so altbacken und unoriginell. Vor zwanzig Jahren schon hätte man gegähnt, wäre einem von dieser Idee berichtet worden.
Ja, Ausstellungen und Kunstwerk werden nicht nur gezeigt, sie werden auch weitererzählt und so selbst von Menschen gesehen, besser imaginiert, die nicht an Ort und Stelle waren. Dass die Ecole supérieure des beaux-arts de Toulouse unter der Leitung von Michel Métayer am ersten Oktoberwochenende zum Thema „Récit d’exposition“ ein kleines Symposium mit Künstler, Kuratoren und Kritikern organisierte, war denn auch eine der wirklich originellen Ideen des diesjährigen „Printemps de Septembre“. Christian Bernard etwa erinnerte Harald Szeemanns Ausstellungsinstallation „Spuren, Skulpturen und Monumente ihrer präzisen Reise“ 1985 im Kunsthaus Zürich selbst als ein einziges großes Landschaftsgemälde. Und der Künstler Alain Bublex aus Lyon, der vor allem für sein langjähriges Projekt „Glooscap“ bekannt ist, eine real-fiktive Stadt, deren Geschichte und Zeugnisse sich aus historischen und aktuellen Versatzstücken diverser Städte zusammensetzt, nannte als seinen Erinnerungsanker, an dem seine Ausstellungserzählungen hängen, die Momente, in denen etwas schiefgeht. Etwa, wenn seine kleine Tochter in eine Projektion von Louise Bourgeois gerät und als Silhouette über den an die Wand geworfenen Worten durchs Bild tanzt.
Durch begabtes Ungeschick fiel dann auch der „Chevalier de Ranchy“ von der Band Le Club Des Chats höchst angenehm auf, als er spät abends in der Kunsthochschule das „Small Hours Radio“ mit irrwitzigen Mini-Jingles anmoderierte, bevor es wieder um die bekannten Erkennungsmelodien des Kunstbetriebs ging. Sylvie Fleurys versilberte Prada-Stiefel und Louis-Vuitton-Täschchen sind eine solche, deren Spur man nun im Naturkundemuseum von Toulouse aufnehmen kann; oder Berlinde de Bruyckeres exquisite Pferde- und Frauenkadaver, die sie in dem aus dem 12. Jahrhundert stammenden Kloster Les Jacobins an hohe rostige Eisensäulen hängt; oder Cosima von Bonins Küchenhandtuchskulpturen und -bilder, die man selten so delikat, allerdings auch so kontextlos ausgestellt gesehen hat; oder „Habibi“, Adel Abdessemeds 17 Meter lange, symbolisch von einer Flugzeugturbine angetriebene Nachbildung eines menschlichen Skeletts, das nun in der großen Halle des Musée les Abattoirs schwebt. Hier lässt sich immerhin ein hübscher, ironischer Bezug zur Airbus-Stadt Toulouse konstruieren.
Ansonsten aber scheint insgeheim alles auf Genf zu verweisen, wo Christian Bernard Direktor des Musée d’Art Moderne et Contemporain (Mamco) ist. Im Musee les Abattoirs inszeniert er mit Sammlungsbeständen aus dem Mamco eine müde Reprise von John M. Armleders letztjähriger, extrem origineller Neueinrichtung der Räume. Und neben Sylvie Fleury hat er die Genfer Künstler Pierre Vadi, Christian Floquet, Silvie Defraoui und Patrick Weidmann eingeladen. Keiner von ihnen überzeugt. Gleichgültig, ob es sich um Weidmann und seine Werbefotografien handelt, die der Künstler als Kritik der Werbefotografie versteht, oder um Silvie Defraouis langatmige Filmetüde über die Visualisierung von Erinnerung, „Bruits de surface“. Deren kunstgewerblicher Charme lässt nun gewiss nicht vermuten, dass die 1935 in der Schweiz geborene Künstlerin mit der Gründung des „Mixed Media“-Workshops 1974 an der Genfer Haute école d’Art et de Design eine Pionierin der Schweizer Videokunst ist. Genf ist keine Hauptstadt der Kunst, das lässt sich in Toulouse immerhin ohne Weiteres in Erfahrung bringen.
■ Bis 18. Oktober www.printempsdeseptembre.com