Zwischen Realität und Fantasie

Vom Stalinismus über Machtmissbrauch bis zu einem Gespensterhaus: Mit dem künstlerischen Leiter Carlo Chatrian beginnt heute eine neue Epoche der Berlinale. Unsere Filmexpert*innen geben vorab einige Empfehlungen für die 70. Ausgabe des Filmfestivals

„Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ Foto: Vento Film

„Aufzeichnungen aus der Unterwelt“

(Panorama Dokumente)

Wien in den 1960ern: Die Revierstreitigkeiten unter einheimischen Glücksspielrittern und Zuhältern eskalieren gewalttätig, Polizei und Justiz greifen mit postfaschistischer Brutalität durch, die Presse strickt Mythen um die Vorstadtkönige. Rainer Frimmel und Tizza Covi holen in ihrem Dokumentarfilm „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ den zu Unrecht verurteilten Heurigen-Sänger Kurt Girk, den Mittäter Alois Schmutzer, seine Schwester Helli und andere vor die Kamera. In sprödem Schwarz-Weiß nimmt sich der Film Zeit, die Oral History seiner Zeitzeugen zu erzählen. In breitem Wienerisch geht es mit Neugier und Anteilnahme um ihre Kindheit unter Hitler, Schwarzmarktmilieus und Halbwelt in der Nachkriegszeit und eine Innenansicht der damaligen Behördenwillkür. Heurigen-Lieder wirken wie der Ethno-Sound aus einer versunkenen, nie aufgearbeiteten Ära. Claudia Lenssen

„Aufzeichnungen aus der Unterwelt“, R.: Rainer Frimmel & Tizza Covi, Österreich 2020. Termine: 23. 2., 16.30 Uhr, International; 24. 2., 19.15 Uhr, Cubix; 25. 2., 9 Uhr, Cinemaxx; 28. 2., 20 Uhr, Cubix, 1. 3., 10 Uhr, Zoo Palast

DAU. Natasha (Wettbewerb) &

„DAU“ Foto: Phenomen Film

DAU. Degeneratsia (Berlinale Special)

Ursprünglich sollte es wohl „nur ein Film“ werden, doch dann geriet das Projekt außer Kontrolle. Schon 2004, da hatte der russische Regisseur Ilya Khr­zha­novsky gerade mit seinem Regiedebüt „4“ die Filmfestivals der Welt in Aufregung versetzt, munkelte man über die Ambition seines nächsten Werks: „DAU“. Stalinismus, aber hautnah – so in etwa lautete die Parole. Es geht um den Physiker Lev Landau, aber eine Art Biopic über den Nobelpreisträger zu erwarten, wäre völlig daneben. So machten Gerüchte vom Filmset in Kharkov die Runde: kein Drehbuch, alles wie in „real life“. Aus Film wurde eine Kunstinstallation, deren Eröffnung 2018 in Berlin unter hitzigen Debatten abgesagt wurde, und die in Paris und London dann unter viel Vorab-Getöse, aber letztlich erstaunlich verhalten aufgenommen wurde. Nun also kriegen die Berliner endlich was zu sehen: Der zweieinhalbstündige „DAU. Natasha“ im Wettbewerb und der sechsstündige Ausschnitt aus dem Gesamtkunstwerk „DAU. Degeneratsia“. Barbara Schweizerhof

„DAU. Natasha“, R.: Ilya Khrzhanovsky, u. a. Deutschland & Russland 2020. Termine: 26. 2., 22 Uhr, Berlinale Palast; 27. 2., 15 Uhr, Friedrichstadt-Palast; 27. 2., 21.15 Uhr, Haus der Berliner Festspiele; 29. 2., 18.30 Uhr, Friedrichstadt-Palast; 1. 3., 22 Uhr, International. „DAU. Degeneratsia“, R.: Ilya Khrzhanovsky, u. a. Deutschland & Russland 2020. Termine: 28. 2., 17 Uhr, Haus der Berliner Festspiele; 29. 2., 12.30 Uhr, Cubix; 1. 3., 15 Uhr, Cinemaxx

„Ostatni etap“ (Berlinale Classics)

„Ostatni etap“ Foto: Fina, © WFDIF, Author: W. Urbanowicz

Viele Filme haben eine Geschichte, manche haben eine besondere: Ab April 1943 war die polnische Regisseurin Wanda Jakubowska in Auschwitz-Birkenau inhaftiert, wo sie Teil der Widerstandsgruppe innerhalb des Lagers war. Jakubowska überlebt am Kriegsende zwei Todesmärsche, bevor sie im April 1945 von sowjetischen Soldaten befreit wird. Im Juni 1945 ist sie mit Gerda Schneider, ebenfalls ehemalige Lagerinsassin, bereits mitten in der Arbeit an einem Film. Ihren Mitinsassinnen hatte sie versprochen, wenn sie überlebe, werde sie einen Film über die Bedingungen in Auschwitz drehen, was sie bis September 1947 vor Ort im ehemaligen Konzentrationslager auch umsetzt. Jakubowskas „Ostatni etap“ (Die letzte Etappe) läuft in diesem Jahr in einer restaurierten Version in den Berlinale Classics. Hoffentlich der Beginn einer breiteren Wiederentdeckung von ­Jakubowskas Werk. Fabian Tietke

„Ostatni etap“, R.: Wanda Jakubowska, Polen 1948. Termine: 22. 2., 19.30 Uhr, Cinemaxx & 1. 3., 12 Uhr, Cinemaxx

„The Assistant“ (Panorama)

Gerade nähert sich in New York der erste Prozess gegen Harvey Weinstein seinem Ende, da ist schon der erste Film fertig, der sich mit dem gefallenen Star-Produzenten auseinandersetzt. Der Name Weinstein fällt in Kitty Greens „The Assistant“ dabei nie, aus rechtlichen Gründen, vor allem aber, weil es Green nicht um einen speziellen Fall von Machtmissbrauch geht, sondern um das Aufzeigen von Strukturen, die Missbrauch ermöglichen. Einen Tag im Leben der jungen Assistenten Jane beschreibt Green in fast dokumentarischer Genauigkeit, einen Tag, in dem Jane viele banale Tätigkeiten verrichten muss, aber auch das Sofa ihres Bosses säubert und seine Potenzmittel auspackt. Unmittelbare Beweise für Missbrauch sieht Jane zwar nicht, aber die sarkastischen Sprüche ihrer männlichen Kollegen lassen kaum Zweifel über das, was man nicht sieht, auch wenn jeder davon weiß. Michael Meyns

„The Assistant“ Foto: Forensic Films

„The Assistant“, R.: Kitty Green, USA 2019. Termine: 23. 2, 19 Uhr, Zoo Palast; 24. 2, 13 Uhr, Cubix; 25. 2, 13.30 Uhr International; 28. 2, 21 Uhr, Cinemaxx; 1. 3, 22 Uhr, Zoo Palast

„Shirley“ (Encounters)

Josephine Deckers letzter, faszinierender Film „Madeline’s Madeline“ (2018) war ein aus Improvisationen hervorgegangener, offener, fließender, freie Übergänge zwischen Realität und Fantasie schaffender Film über eine junge Frau zwischen zwei „Müttern“ – ihrer tatsächlichen Mutter und einer etwas übergriffigen Theaterregisseurin. „Shirley“ ist nun eine – beim Sundance-Festival bereits ausgezeichnete – Literaturverfilmung, aber der Roman von Susan Scarf Merrell beruht auf einer ähnlichen Konstellation: Eine junge Frau, werdende Mutter, zieht in den sechziger Jahren in das Gespensterhaus der höchst eigenwilligen Schriftstellerin Shirley Jackson. Decker wahrt auch im Biopic-Format ihren einzigartigen Stil – und hat den Film mit Elisabeth Moss und Michael Stuhlbarg grandios besetzt. Ekkehard Knörer

„Shirley“ Foto: LAMF Shirley Inc.

„Shirley“, R.: Josephine Decker, USA 2020. Termine: 24. 2., 12 Uhr, Cinemaxx; 25. 2., 20.30 Uhr, Cubix; 26. 2., 18 Uhr, Haus der Berliner Festspiele; 1. 3., 14 Uhr Cubix

„Walchensee Forever“

(Perspektive Deutsches Kino)

„Walchensee Forever“ Foto: Flare Film

Ruhig liegt das „Café am See“ am bayerischen Walchensee. Die Frauen in Janna Ji Wonders Familie haben hier gekocht und serviert, gelebt und gelitten. Bis in die Urgroßmutter-Generation reicht die dokumentarische Recherche, in der allerhand Verborgenes, noch immer Spukendes zum Vorschein tritt. Schlüsselfigur scheint Frauke, die Schwester von Wonders Mutter Anna, die sich im Zuge von 68 zunächst in Trips in Mexiko und den USA verlor, später dann in den Lehren des spirituellen Meisters Kirpal Singh. Wonders fragt in „Walchensee Forever“ nach den Zusammenhängen, von denen sie selbst betroffen ist: „Ich glaub’, deine Zerrissenheit hat sich in mir fortgesetzt“, sagt sie gegen Ende des Films zu ihrer Mutter. Dazwischen hat sich ein ganzes Jahrhundert entrollt. Carolin Weidner

„Walchensee Forever“, R.: Janna Ji Wonders, Deutschland 2020. Termine: 24. 2., 19.30 Uhr, International; 25. 2., 16.39 Uhr, Cubix; 26. 2., 12 Uhr, Colosseum; 27. 2., 18 Uhr, Movimento; 1. 3., 13.45 Uhr, Cubix