berliner szenen: Globale Geschichten beim Bier
M.s Nachbarin vermietet Zimmer, um über die Runden zu kommen. Mit den zwei letzten Untermieterinnen hatte sie Pech. Die eine bestellte fast täglich den Lieferdienst und verschwand über Nacht heim nach Australien. Zurück blieben ein ruinierter Dielenboden und Hunderte Styroporbehälter, in denen Essensreste schimmelten. Die andere, eine Französin, durchwühlte den Kleiderschrank der Landlady und türmte mit ihren Klamotten und dem Silberbesteck.
M. selbst hat andere Sorgen. Seit Wochen sucht sie nach einer geeigneten Sportart. Badminton und Squash erwiesen sich als ungeeignet, weil sie nicht gern läuft. Als Kind war M. Bezirksmeisterin im Taekwondo, zerschlug Holz und Beton mit der Handkante und mit der Stirn. Gerade plant sie eine Performance, in die einige der ihr immer noch geläufigen Bewegungsabläufe einfließen sollen. Außerdem schreibt sie ein Buch über ihre Familie und die Geschichte ihrer Heimat Peru.
P. gesellt sich zu uns. Seine Familie stammt aus der südchinesischen Provinz Guangdong. Wir wollen wissen, wie es seinen Leuten dort geht. Sie haben Angst, sagt er. Obwohl Hubai 1.000 Kilometer entfernt ist, verlassen viele nicht mehr die Wohnung. Das Thema ist ihm unangenehm, lieber erzählt er von seinen Großeltern. Als Maggie Thatcher Hongkong in den 80ern von einer Industrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft umbaute und ganze Fabriken aufs Festland abwanderten, legte sein Opa den Grundstein für den Familienbetrieb, indem er eine Maschine erwarb und sie im Wohnzimmer aufstellte. Die Maschine war groß wie ein Panzer und machte auch so viel Lärm, doch von da an hatten alle Arbeit. Was produzierte die Maschine? Die Erinnerung zaubert ein Lächeln auf P.s Gesicht, als er sagt: Plastikspielzeug.
Sascha Josuweit
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