: Melancholie des Abschieds
Die italienische Schauspielerin Valeria Golino erzählt in ihrer erst zweiten Arbeit als Regisseurin im Film „Euforia“ mit großer Leichtigkeit und viel Witz von zwei ungleichen Brüdern
Von Fabian Tietke
Matteo betreut Kunstprojekte in aller Welt und eilt von Termin zu Termin. Kurz bevor er dafür nach Abu Dhabi aufbricht, erhält er einen Anruf. Er stockt mitten in der Drehtür eines Luxushotels und kommt als anderer Mensch wieder heraus. Sein Bruder Ettore hat einen unheilbaren, bösartigen Tumor im Hirn.
Im Auto auf dem Weg zu seinem Bruder lässt er sich vom Arzt Optionen für die Behandlung erklären. Er wirft seine durchgetaktete Welt über den Haufen und holt seinen Bruder zu sich nach Hause. In Rom besorgt er ihm Termine bei den besten Ärzten, setzt alle Hebel in Bewegung. Dass die Erkrankung unheilbar ist, verschweigt er sowohl Ettore als auch dem Rest der Familie.
Gemeinsam verleben die zwei Brüder Tage eines emotionalen Ausnahmezustands. Die Tage vergehen voller Vertrautheit, alter Konflikte und mit Ettores Rückzügen in sich selbst. Die Welten der Brüder sind grundverschieden: Matteos Leben als erfolgreicher Manager, als Schwuler, als Teil eines Netzwerks intimer Freundschaften, ist Ettore fremd; andersherum bleiben seinem Bruder dessen Selbstbeschränkung, seine Arbeit als Lehrer in der Umgebung von Rom, seine Zurückgezogenheit unverständlich. Zwischen den Terminen für die Strahlentherapie entfalten sich kleine Begegnungen mit Fremden, erblühen Szenen des Lebens. Mit immer abwegigeren Geschichten rechtfertigt Matteo sein Wirbeln um den Bruder, bis er diesen schließlich überredet, eine Reise zu einer Wallfahrtsstätte mit ihm zu machen.
Würde am Lebensende
„Euforia“ ist der zweite Film, bei dem Valeria Golino Regie geführt hat. Meist arbeitet sie als Schauspielerin. 2013 feierte Golino mit „Miele“ (Honig) in Cannes ihr viel beachtetes Debüt als Regisseurin. Der Film erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die Menschen bei ihrem selbstgewählten Freitod assistiert. Als die junge Frau über die Begegnung mit einem pensionierten Ingenieur, der nicht mehr leben will, in eine Krise kommt, entfaltet sich eine Auseinandersetzung über die Würde des Lebensendes. Wie der Vorgänger setzt auch „Euforia“ ganz auf seine Protagonisten, im Falle von „Euforia“ die Schauspieler Ricardo Scamarcio und Valerio Mastandrea, die das Brüderpaar in all seinen persönlichen Spannungen überzeugend verkörpern. Matteo versucht mit allen Mitteln, seinem Bruder unbeschwerte letzte Tage zu schenken. Nicht zuletzt, weil der Kontrollverlust, seine Hilflosigkeit gegenüber der Krankheit des Bruders ihn selbst überfordern würde. Währenddessen schrumpfen die Abstände zwischen den Ohnmachtsanfällen Ettores, und ohne dass Matteo ihm ein Wort über seine Krankheit zu sagen braucht, wird er sich seines Zustands bewusst.
„Euforia“ ist wie viele zeitgenössische italienische Filme bisweilen etwas zu sehr in seine eigenen Bilder verliebt. Doch wie schon der Vorgänger ist auch „Euforia“ mit großer Leichtigkeit inszeniert und lässt sich von der Handlung nicht einengen. Die Krankheit und Matteos Fürsorge für Ettore geben stattdessen nur den erzählerischen Rahmen vor, innerhalb dessen sich ein lebendiges Porträt des Brüderpaars, seiner Beziehungen zueinander und zu anderen entfalten kann.
Valeria Golino zeigt mit großer Einfühlsamkeit und zartem Humor die Melancholie des Abschieds der beiden Brüder. In der Konzentration auf die Beziehung des ungleichen Duos vermeidet sie Fallstricke des Symbolismus, die Fiktionen des Abschieds so oft in Klischees kippen lassen. Golino hat das Kunststück vollbracht, mit gerade einmal zwei Werken eine der interessantesten Regisseurinnen des italienischen Films zu werden. „Euforia“ ist ein Kleinod des zeitgenössischen Kinos.
„Euforia“. Regie: Valeria Golino. Mit Riccardo Scamarcio, Valerio Mastandrea u. a. Italien 2018, 110 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen