Spielen unter Plastikmüll

Das Festival Ultraschall Berlin war 2020 vor allem ein Festival der Komponistinnen. Musik für traditionelle Instrumente stach die technisch ambitionierteren Beiträge meist aus

„Also sprach Golem“ mit Graham F. Valentine (Mitte) und Scenatet Kopenhagen Foto: Simon Detel/Deutschlandfunk

Von Tim Caspar Boehme

Freitagabend, Heimathafen Neukölln. Auf der Bühne stehen ein Cembalo, eine Harfe und ein Holzding, das aussieht wie ein selbst gebautes, aus Blöcken zusammengesetztes Fagott. Das mit den Blöcken erweist sich beim Blick ins Programm als richtig, es ist eine Bassblockflöte, nach ihrem Erbauer Paetzoldflöte genannt. Alle drei Instrumente sind mit Plastikplanen verhängt.

„Kaput II“ heißt das Stück der österreichischen Komponistin Manuela Kerer, mit dem das Konzert des œnm., des österreichischen Ensembles für neue Musik, dann eröffnet. Mit ihrer Verhängung möchte Kerer auf das Müllproblem in der Welt aufmerksam machen. Die Instrumente klingen gedämpft, abgeflacht. Kurz vor dem Ende des Stücks reißen die Musikerinnen die Folien herunter. Doch eine hörbare akustische Befreiung bleibt aus.

Aktuelle politische Fragen sind bei Ultraschall Berlin, dem Festival für neue Musik von Deutschlandfunk Kultur und rbb Kulturradio, das am Sonntag zu Ende ging, eigentlich nicht die vordringlichsten Dinge. Dieses Jahr allerdings waren sie als Anliegen im Programm markant sichtbar. So hatte auch die Komponistin Sarah Nemtsov, der das Festival einen Schwerpunkt widmete, ein Klavierstück über Müll im Angebot. Das Auftragswerk „Mountain & Maiden“, das am Sonnabend vom Pianisten Christoph Grund im Radialsystem uraufgeführt wurde, ist die Musik zu einem Film von Shmuel Hoffman und Anton von Heiseler. Zu sehen ist darin ein zehnjähriges Mädchen, das in Neu-Delhi am Rand einer gigantischen Müllhalde lebt.

Die Aufnahmen, bei denen die Kamera über weite Strecken endlose Mengen von Hausmüll, Arzneimittelresten und geborstenen Metallfässern unklaren Inhalts passiert, machten ziemlich sprachlos. Wobei die Frage blieb, ob die Kombination aus Klaviertönen, Brummfrequenzen und Störgeräuschen ohne den Film sonderlichen Bestand gehabt hätte.

Stärkeren Eindruck mit kleineren Gesten machte Nemtsovs Orchesterstück „dropped.drowned“, gespielt vom Deutschen Symphonie-Orchester Berlin (DSO Berlin), mit dem das Festival am Mittwoch im Haus des Rundfunks eröffnet hatte. Durch eine Umbesetzung, der Dirigent Johannes Kalitzke war für den kurzfristig erkrankten Marc Albrecht eingesprungen, konnte Nemtsovs Stück zudem den Abend eröffnen.

In „dropped.drowned“ malt Nemtsov mit reduzierter Farbpalette und lässt die Orchestergruppen in sachten Wellen flirren. Genau diese Sparsamkeit machte den großen Reiz aus, mit Irritationen durch elektronische Klänge, Field recordings und gelegentliche Akzente von hinten im Raum verteilten Trompeten und Oboen, die vorne durch Lautsprecher verfremdet zu hören waren.

Das folgende Violinkonzert von Jörg Widmann wirkte da in seinem spätromantischen Gestus, der durch diverse mikro- und atonale Volten immer wieder aus seiner harmonischen Ruhe gerissen wurde, eher wie ein Bravourstück. Komponist und Solistin, die Widmungsträgerin Carolin Widmann, konnten zwar beide ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen, die technische Finesse hinterließ aber weniger einen dringlichen als einen leider selbstverliebten Eindruck.

Dieses Jahr waren politische Fragenim Programm markant sichtbar

Überhaupt waren die spartanischen Ansätze in diesem Jahr die überzeugendsten. So steuerte die Komponistin Clara Iannotta, der unter anderem ein komplettes Konzert mit Streichquartett zugedacht war (siehe taz vom 18. 1.), für den Auftritt des œnm. mit „Limun“ für Violine und Viola den kargsten, in ihrer nuancierten Klangerkundung zugleich bewegendsten Beitrag bei. Ähnlich herausragend die im selben Konzert mit ihren „Fünf Etüden“ für Harfe, Kontrabass und Schlagzeug vertretene Sofia Gubaidulina. Deren wie impressionistischer Jazz diskret fließende Musik von 1965 war in der Sowjetunion nicht wohlgelitten, hat die Jahrzehnte aber bestens überstanden. Überhaupt bot Ul­traschall Berlin dieses Jahr mehrheitlich Musik von Komponistinnen, eine schöne Ausnahme im nach wie vor männerdominierten Konzert- und Festivalbetrieb.

Dass andererseits Fortschritt durch Technik nicht selbstverständlich ist, zeigte das Musiktheaterstück „Also sprach Golem“ von Kommando Himmelfahrt und Kaj Duncan David am Sonnabend im Radialsystem. Nach Motiven von Stanislaw Lem beschäftigt sich der Komponist David darin mit künstlicher Intelligenz. Eine verfremdete Computerstimme zählte die Nachteile des Menschen auf, der Schauspieler Graham F. Valentine gab den verrückten Professor, dazu spielte das dänische Ensemble Scenatet auf elektronischen und akustischen Instrumenten eine erwartbare futuristische Untermalung, die ähnlich altmodisch wirkte wie die Retro-Animationen auf der Leinwand.

Einzig als die Gaze der Leinwand gegen Ende des Stücks plötzlich durchscheinend wurde und den Blick auf die dahinter sitzenden Musiker freigab, entstand mit dem sich öffnenden Raum ein interessantes Bild. Dass hinter der künstlichen eine überlegene künstlerische Intelligenz steckt, war als Pointe jedoch allzu vorhersehbar.

In guter Erinnerung blieb hingegen Rebecca Saunders’ Klavierstück „crimson“, von Christoph Grund dargeboten, das kraftvoll von insistierendem Hämmern zu gelösten, freischwebenden Akkorden wechselt. Ebenso Francisco Guerreros Orchesterwerk „Antar Atman“ vom Abschlusskonzert am Sonntag, wieder mit dem DSO Berlin unter Kalitzke, das mit Streicherflächen, die sich jäh wegbogen, überraschte. Und mit der verdichteten rhythmischen Energie von vierfachem Vibrafon.