: Tod oder Knast oder Kinder
Herta Müllers großes Thema ist die inhumane Seite des Staatssozialismus, an die sie auch nach dem Ende des Kalten Krieges erinnert. Um den Sozialismus mit unmenschlichem Antlitz und dessen Umgang mit Frauen ging es auch in diesem Text, den sie 1988 für die taz schrieb
VON HERTA MÜLLER
In Rumänien geht ein Gruselmärchen um: Ceaușescu sei schwer krank. Er wäre längst tot, bekäme er nicht täglich Bluttransfusionen. Das Blut werde Neugeborenen mit der Nadel aus der Stirn genommen. In welchem anderen Land könnte diese Geschichte von einer Frau, die eine Hochschule besucht hat, in der Großstadt lebt, nicht älter als dreißig ist, mit feuchten Augen und zitterndem Kinn, erzählt werden?
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Eine Kollegin, sie ist Lehrerin an derselben Schule, sagt mir auf dem Heimweg von der Schule, sie habe ein Problem. Sie sei schwanger: „Du hast keine Kinder. Du kennst bestimmt einen Arzt, der mir helfen kann.“ Ich verneine, sage, ich sei noch nie schwanger gewesen. Ich lüge. Halte alles, was sie sagt, für eine Provokation. Erst, als sie zittert und weint, glaube ich ihr. Ich fühle mich schuldig. Sie hört zu weinen auf, sagt wütend: „Ich hab meinem Mann gesagt, ich schneid ihm den Schwanz ab, wenn das noch einmal passiert.“ Sie hat schon zwei Kinder. Ich sage, ich nehme die Pille. Ich habe zwei Abtreibungen selbst gemacht. Beides entspricht der Wahrheit. Einige Wochen später steht die schwangere Lehrerin im Jugendhaus auf der Bühne. Es findet wieder mal ein Wettbewerb der Schulen im Rahmen des Festivals „Preis dir, Rumänien“ statt. Sie dirigiert einen Chor, der Lieder auf Ceaușescu singt. Es beginnen die Sommerferien. Ich arbeite im nächsten Schuljahr an einer anderen Schule. Ich denke oft an die Lehrerin. Zufällig begegne ich ihr in der Stadt. Sie müsste inzwischen im sechsten Monat schwanger sein. Ihr Bauch ist flach. Als sie mich sieht, will sie ausweichen. Es ist zu spät, ich geh schon auf sie zu. „Ich freu mich, dass du das Problem damals gelöst hast“, sag ich. Sie schaut mir ins Gesicht. Ihr Blick ist kalt: „Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, sagt sie. Ich verabschiede mich.
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Im Kreiskrankenhaus der Stadt gibt es eine Familienberatungsstelle. Die für Beratungen zuständige Ärztin ist die Frau eines Geheimdienstoffiziers. Sich ihr anzuvertrauen, heißt, sich dem Geheimdienst anvertrauen.
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Eine Medizinstudentin, sie ist im letzten Studienjahr, ist schwanger. Sie nimmt selbst eine Abtreibung an sich vor. Sie bekommt hohes Fieber. Sie müsste ins Krankenhaus. Aus Angst vorm Krankenhaus und aus Angst vorm Knast erhängt sie sich im Zimmer des Studentenheims. Es findet eine Sitzung der Hochschulleitung statt. Die Studentin wird im Beisein vieler Studenten post mortem aus der Partei ausgeschlossen und aus der Hochschule exmatrikuliert. In der Halle des Studentenheimes wird ein Foto von ihr ausgehängt. Dazu ein Text, der sie als „negatives Beispiel“ darstellt.
In Frauenkliniken sind vom Geheimdienst kommende „Verhörspezialisten“ fest angestellt. Sie sind als Ärzte getarnt, tragen weiße Kittel, und vor dem Namen die Bezeichnung „Dr.“. Frauen werden nach der Einlieferung über den Verlauf der Abtreibung verhört. Die durch Mittel oder Anwesenheit beteiligten Personen sind zu melden. Erst danach wird, selbst im Fall eines Blutsturzes, mit der Behandlung begonnen. Nicht selten sterben Frauen, weil sie das Geständnis nicht geliefert haben.
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Arbeiterinnen werden während der Arbeitszeit unter Begleitung einer „vertrauenswürdigen“ Person des Betriebs zum Gynäkologen zur Untersuchung gebracht. Der Vorwand lautet: Vorbeugung von Gebärmutterkrebs. Diese „vorbeugenden“ Untersuchungen gab es vor der Verschärfung des Abtreibungsgesetzes nicht. Schwangere Frauen werden registriert. Außerdem wird jedwede ärztliche Behandlung bei einer Frau erst vorgenommen, nachdem sie die Bescheinigung des Gynäkologen vorgelegt hat. Selbst beim Zahnarzt ist diese Bescheinigung erforderlich.
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Schulleitung und Lehrer des Gymnasiums beschließen auf einer Sitzung, eine Schülerin wegen Schwangerschaft zu exmatrikulieren. Der Vorschlag wird von der Klassenlehrerin ausgesprochen. Die schwangere Schülerin ist nicht anwesend. Das Ergebnis der Sitzung steht fest, bevor die Sitzung beginnt. Die Redner und Rednerinnen sind beauftragt. Auch die Reihenfolge, in der sie sich zu Wort zu melden haben, ist festgelegt. Das Protokoll schreibt ein „Eingeweihter“. Sollte es zu unvorhergesehenen Äußerungen kommen, werden diese nicht ins Protokoll aufgenommen. Ich melde mich zu Wort, sage, dass wir eine Schule sind, und für eine Schülerin, gerade weil sie Probleme hat, da sein müssten. Ich gebe zu bedenken, dass die Schülerin auf der Straße landen wird. Dass im Unterrichtsprogramm die sexuelle Aufklärung fehlt. Dass die wenigsten Kolleginnen und Kollegen diesbezüglich etwas tun. Dass der Mann, von dem die Schülerin das Kind erwartet, weder von ihr noch von dem Kind etwas wissen will. Dass die Eltern ihre Tochter wegen der „Schande“ des Hauses verwiesen haben. Ich erwecke mit meinen Äußerungen den Zorn der Schulleitung. Auch die beauftragten Redner fühlen sich persönlich angegriffen. Der Großteil der Anwesenden schaut mich gelangweilt an und schweigt. Es wird abgestimmt: alle sind dafür. Eine dagegen. „Das ist doch die Höhe“, sagt die Klassenlehrerin, „wir sind ein Gymnasium. Keine Wohlfahrtsinstitution.“
Die schwangere Schülerin wird in den Pausen auf dem Korridor der Schule von den Schülerinnen und Schülern verspottet und verlacht. Mitschüler, die das nicht tun, gehen ihr aus dem Weg und schweigen.
Diese Schulgeschichte findet 1984 statt. Inzwischen haben sich die Anweisungen und Vorgangsmechanismen geändert. Die Klassenlehrer haben den Auftrag, ihren Schülern zu sagen, welch große Ehre es ist, Mutter zu werden. Im Fall einer Schwangerschaft können Schülerinnen, gleich nach der Geburt, ohne sich um die Kinder zu kümmern, das Schuljahr fortsetzen. Es gibt keinen Grund, das Kind nicht zur Welt zu bringen. Es gibt nämlich Heime und Waisenhäuser, denen man das Kind überlassen kann. Auch für immer. Mit der Ächtung ist es vorbei. Denn die Waisenhäuser sind für das Regime eine Investition, die sich bezahlt macht. Es ist erwiesen, dass Waisen für Devisen ins Ausland verkauft werden. Ebenso gelten Waisen, da sie dem Staat von der Geburt an gehören, wegen der langjährigen „Erziehung“ und der „Betreuung“ als zuverlässiger und anspruchsloser Nachwuchs für Polizei und Geheimdienst.
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Die Mutter einer Schülerin der sechsten Klasse kommt in die Schule und meldet der Klassenlehrerin, dass ihr Mann, der Vater der Schülerin, diese seit einem halben Jahr missbraucht. Sie, die Mutter, habe das von der kleineren Tochter erfahren. Sie sei am Tag davor, um das zu überprüfen, früher aus der Fabrik nach Hause gegangen. Sie habe ihren Mann mit der älteren Tochter im Bett vorgefunden.
Die Schülerin hat wegen der Drohungen des Vaters der Mutter nichts gesagt. Die Mutter findet das Kind genauso schuldig wie den Vater. Die Klassenlehrerin und Schulleitung sind mit diesem Schuldspruch einverstanden. Die Schülerin wird in eine Schule für Schwererziehbare transferiert.
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Ich arbeite in einem Maschinenbaubetrieb. Ich höre am Nebentisch im Büro ein Telefongespräch: „Guten Tag. Verkaufen Sie noch Handstickereien? Die Dimensionen sind 29 zu 2. Wie viel bezahl ich dafür? Gut. Wann kann ich die Stickerei abholen? Ja, ich werde um 10 Uhr da sein.“ Das Gespräch führt eine Bürokollegin. Sie hat ein Kind. Sie ist 29 Jahre alt und im zweiten Monat schwanger. Das sind die „Dimensionen“ der Stickerei. Das Gespräch hat sie geführt mit einer Pfuscherin. Die Abtreibung kostet 5.000 Lei (zwei Monatsgehälter). Sie hat Glück. Die Abtreibung verläuft ohne Komplikationen. Später nimmt sie Abtreibungen mit dem Plastikschlauch einer Rundstricknadel selbst an sich vor.
Diesen Schlauch führt sie auch mir, auf der Toilette des Betriebs, in die Gebärmutteröffnung ein. Ich trage den Schlauch drei Tage und drei Nächte. Das freie Schlauchende ist mit Verbandszeug am Schenkel festgebunden. Ich muss diese Zeit über in Röcken und ohne Strumpfhosen gehn, damit die Luftzufuhr in die Gebärmutter gesichert ist. Bei der zweiten Abtreibung borgt sie mir nur diesen Schlauch. Ich sitz zu Hause bei verschlossener Tür im Bad. Der Spiegel liegt unter mir. Ich führe mir den Schlauch selbst ein.
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Ein Bekannter sagt: „Kein Problem. Wenn meine Frau schwanger ist, fahren wir übers Wochenende zu meiner Schwiegermutter aufs Land. Zwanzigmal Kellertür heben, dann ist es vorbei. Man muss sich nur zu helfen wissen.“ Ich kenne seine Frau nicht näher. Ob sie das auch so gelassen sagen könnte?
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Abtreibungsrezepte:
– zu Mehl geriebene Kernseife in die Gebärmutter einführen;
– Zitrone oder Zitronensäure in die Gebärmutter einführen;
– den Plastikschlauch einer Rundstricknadel in die Gebärmutter einführen;
– schwere Möbelstücke so oft, so lange und so hoch heben, wie frau kann;
– verschiedene Injektionen in Überdosis spritzen, zweimal im Abstand von drei Tagen;
– Magentabletten, die aus der Sowjetunion ins Land geschmuggelt und auf dem Schwarzmarkt verkauft werden, in Überdosis einnehmen: 24 Stunden lang im Abstand von zwei Stunden je zwei Tabletten. Fieber, Magenkrämpfe und starkes Erbrechen sollen die Abtreibung bewirken. Die Tabletten sind im Volksmund als „russische Pillen“ bekannt.
Diese Rezepte werden angewandt. Man beginnt mit den harmloseren, geht mit steigender Verzweiflung zu den riskanten über. Tagtäglich landesweit angewandt, führen sie seit der Verschärfung des Abtreibungsgesetzes in Hunderten von Fällen zum Tod. Wie viele Frauen an der Folge solcher Abtreibungsversuche im Krankenhaus oder zuhause allein gestorben sind, weiß niemand. Statistiken gibt es keine. So, wie es keine Verhütungsmittel gibt. Auch die sind verboten. Wenn die versuchte Abtreibung misslingt, bringen Frauen in vielen Fällen geistig oder körperlich behinderte Babys zur Welt. Die Behandlung im Krankenhaus wird, auch wenn es ersichtlich ist, dass der Abtreibungsversuch dem Kind bereits geschadet hat, zwecks Beibehaltung der Schwangerschaft unternommen. Ärzte, die besonders viele Geburten registrieren, können mit einer steilen Karriere rechnen, mit Prämien und Privilegien.
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Eine Studentin wird mit fünf Studienkollegen verhaftet. Die sechs Personen befinden sich auf der Fahrt in ein Dorf, das im Grenzgebiet liegt. Dort wohnen die Eltern eines Studenten. Das Motiv „versuchter Grenzübertritt“ ist erfunden. Keine der sechs Personen hatte das Auto verlassen, und das Auto hatte die Landstraße nicht verlassen. Die fünf Kollegen sind Schriftsteller, dem Geheimdienst wegen „staatsfeindlichen Umtrieben“ bekannt. Die fünf Männer werden in der folgenden Untersuchungshaft in benachbarten Zellen verwahrt. Die Studentin gelangt in einen anderen Trakt. Sie selber ist nicht Autorin. Sie wird zu den Prostituierten gebracht, in eine große Gemeinschaftszelle. Während des Verhörs fasst ihr der Polizist an den Hintern und an die Brüste. Sie wehrt sich. Der Polizist wird wütend: „Tu nicht so scheinheilig. Wie viele Kilometer Schwanz hast du denn in deinem Leben schon geschluckt?“ Er droht mit Prügel. Sie lässt ihn aus Angst gewähren. Er täuscht die Absicht vor, sie zu küssen. Sie schließt die Augen und beschließt, es über sich ergehen zu lassen. Als sein Gesicht ganz nahe an dem ihren ist, gibt er ihr höhnend zwei Ohrfeigen. Behauptet, sie hätte versucht, ihn zu verführen. Weinend wird sie in die Zelle zurückgebracht. Die Frauen empfangen sie mit Gelächter: „Du bist zimperlich. Es wird dir noch vergehn. Du bist doch auch wegen den Schwänzen da, wie wir.“
Die Töchter und Frauen der Nomenklatura betreffen diese Zustände nicht. Es gibt Parteikrankenhäuser, da werden Abtreibungen vorgenommen.
Alle anderen Frauen kriegen Kinder, enden im Knast, oder sterben.
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Es drängt sich die Frage auf: Wozu dieser Wahn? Weshalb wünscht sich ein Diktator ein so rasantes Wachstum der Bevölkerung? Die wirtschaftliche Misere ist bekannt. Ein Krieg steht wohl nicht bevor.
Immer mehr Menschen bei gleichbleibender, das heißt fast ausfallender Versorgung.
Die Gewissheit, dass prekäre Lebensverhältnisse eine Voraussetzung dafür sind, ein großes Volk von Untertanen statt eines kleinen Volkes von Staatsbürgern zu besitzen, könnte eine Erklärung sein.
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Schon im Kindergarten hören die Kinder täglich den Satz: „Genosse Nicolae Ceaușescu ist der Vater aller Kinder.“ In vielen Fällen stimmt dieser Satz, auf eine makabre Weise.
Dieser Text von Herta Müller erschien am 15. August 1988 in der taz.