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Archiv-Artikel

Ein Mann wie Italien

Der Historiker Paul Ginsborg erklärt das „politische Projekt“ Silvio Berlusconi. Was Europa dagegen tun sollte, weiß allerdings auch er nicht

VON RALPH BOLLMANN

In Deutschland schreckt Silvio Berlusconi keinen mehr. Wie sollte man den Mann auch ernst nehmen, der auf internationalen Gipfeltreffen stets den Pausenclown markiert, der mit Schönheitsoperationen mehr Schlagzeilen macht als mit politischen Inhalten, dem das Amt des italienischen Ministerpräsidenten vor allem zum Schutz vor Strafverfolgung dient. Diese spezifische Form der politischen Tragikomödie gilt hierzulande als durch und durch italienische Erscheinung, die man nicht allzu ernst zu nehmen braucht.

Anders sieht es der britische Historiker Paul Ginsborg, der in Florenz lehrt. In seinem Buch wendet er sich gegen die notorische Unterschätzung des Mailänder Geschäftsmanns und Politikers. Berlusconi besitze, so Ginsborgs zentrale These, „ein ernst zu nehmendes politisches Programm“. Er habe „den Ehrgeiz, in einem modernen demokratischen Staat eine persönliche charismatische Herrschaft zu etablieren“. Dazu verbinde er politische und mediale Macht, überkommenen Klientelismus und radikalen Wirtschaftsliberalismus, öffentliche und private Sphäre.

Allerdings erklärt auch Ginsborg das Phänomen vor allem aus den besonderen Traditionen Italiens. So könnten viele Bewohner des Landes in Berlusconis Kampf gegen die Justiz nichts Anstößiges finden, weil sie es selbst mit Recht und Gesetz nicht so genau nähmen. In dem reichen und mächtigen Aufsteiger sähen zudem viele Italiener ihre eigenen Wünsche und Hoffnungen gespiegelt. Schließlich greife Berlusconis Selbststilisierung als „padrone“, der Schutz gewährt und Gehorsam einfordert, auf traditionelle Verhaltensmuster zurück.

Der Entschlossenheit des Ministerpräsidenten stellt Ginsborg das Bild einer parlamentarischen Linken gegenüber, die mehr als zehn Jahre nach Berlusconis Einstieg in die Politik noch immer keine überzeugende Antwort auf dessen Projekt gefunden hat. Mal höhnte sie über den Premier wie über eine Witzfigur, mal übernahm sie anbiedernd dessen Programm; immer war ihr der interne Zwist wichtiger als die entschlossene Abwehr von Berlusconis Attacken gegen Rechtsstaat und Demokratie. Gerade in diesen Passagen ist dem Buch deutlich anzumerken, dass es im Kontext der Massenproteste des Jahres 2002 entstanden ist. Die Demonstrationen mit dem Filmemacher Gianni Moretti als symbolischem Anführer richteten sich gleichermaßen gegen eine unfähige Opposition wie gegen Berlusconi selbst.

Zu den gesellschaftlichen Kräften, die den Protest trugen, zählten auch Ginsborg selbst und seine Florentiner Mitstreiter im „Laboratorium für die Demokratie“, denen das Buch gewidmet ist. Die italienische Ausgabe ist im liberalen Traditionsverlag Einaudi erschienen, der inzwischen zu Berlusconis Mediaset-Konzern gehört. Auch das ist bezeichnend für die italienischen Verhältnisse, die Ginsborg mit einem Wort des Talkmasters Maurizio Costanzo charakterisiert. Die Macht gehöre nicht dem, der in den Medien zu Wort kommt, „sondern dem, der dir erlaubt, darin zu Wort zu kommen“.

Als „Augenblick der Wahrheit“ bezeichnet Ginsborg die nächsten Wahlen, die spätestens im Frühjahr 2006 stattfinden werden. Als die aktualisierte deutsche Ausgabe seines Buchs in den Druck ging, hatte Berlusconi noch nicht die verheerende Niederlage bei den Regionalwahlen im vorigen April erlitten. Auch hatte noch nicht die anschließende Koalitionskrise die Brüchigkeit des Bündnisses enthüllt, dessen Partner sich offenkundig bereits auf die Zeit nach dem Abgang des Regierungschefs vorbereiten.

In Italien war Ginsborgs schmaler Band vor zwei Jahren ein fulminanter Erfolg. Um in Deutschland zu reüssieren, hätte der Historiker aber erklären müssen, warum Berlusconis Projekt über Italien hinaus gefährlich ist. Versucht immerhin hat er es, indem er den 80 Seiten der Originalausgabe 80 Seiten voranstellte, in denen er Berlusconis Aufstieg darstellt und Parallelen zu politisch ambitionierten Medienmagnaten wie Rupert Murdoch, Bernard Tapie oder Michael Bloomberg zieht.

Die Verdoppelung des Umfangs mindert jedoch die publizistische Durchschlagskraft des Essays erheblich, dessen Qualität gerade in seiner Kürze und Pointiertheit bestand. Die thesenhafte Zuspitzung, die Ginsborg in der ursprünglichen Fassung durchgehend gelingt, fehlt in den neu geschriebenen Kapiteln fast völlig.

Die Vergleiche tragen kaum etwas dazu bei, das Phänomen Berlusconi wirklich zu erhellen. Tapie war in Frankreich nicht erfolgreich, der Unternehmer Bloomberg muss sich als New Yorker Bürgermeister den strengen US-Regeln gegen den Interessenkonflikt unterwerfen, und Murdoch hatte als Person niemals Ambitionen auf eine politische Karriere.

Gleichwohl war das scheinbar rückständige Italien oft genug der Vorreiter von Entwicklungen, die wenig später auch Deutschland erreichten – man denke nur an die Gründung des Nationalstaats im 19. Jahrhundert, den Siegeszug des Faschismus im 20. Jahrhundert oder die christdemokratischen Parteispendenaffären des vergangenen Jahrzehnts. Heute ist der Aufstieg Berlusconis der bislang schärfste Ausdruck einer Krise, die das hergebrachte Parteiensystem in ganz Europa durchläuft. Weder die traditionelle Rechte noch die politische Linke hat bislang eine Antwort auf diese Herausforderung gefunden. Was man aus dem Phänomen Berlusconi über die Einzelperson hinaus wirklich lernen kann, wird sich vielleicht erst nach seinem Abgang von der politischen Bühne voll abschätzen lassen.

Paul Ginsborg: „Berlusconi. Politisches Modell der Zukunft oder italienischer Sonderweg?“ Aus dem Englischen von Friederike Hausmann. Wagenbach Verlag, Berlin 2005, 11,90 Euro