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Eine wie keine

Shoshke, eine weibliche Kunstfigur, ist in Israel zur Frontfrau des zivilen Protests geworden. Ohne Gesicht zu zeigen, zeigt sie Gesicht und zählt zu den 100 einflussreichsten Personen des Landes

Shoshke und ihre Fans Foto: Ziv Koren/Polaris/laif

Aus Tel Aviv Judith Poppe

Im rosa Overall mit aufgenähten Brüsten und einer Vagina wird Zeev Engelmayer zur Kunstfigur „Shoshke“. Gelbe Haare und rote High Heels komplettieren das Alter Ego des renommierten israelischen Illustrators. Nur, was will er mit Shoshke erreichen? „Es ist, als würde ich dich fragen, was du mit Judith erreichen willst. Oder mit deinem Leben“, antwortet er.

Und trotzdem bleibt die Frage: Wer oder was ist Shoshke? Und wie konnte diese übertriebene Figur zu einer der bekanntesten Politaktivist*innen des Landes werden?

Shoshke gibt es seit einer dieser tropischen Hochsommernächte in Tel Aviv. Engelmayer hatte eine Ausstellung im Beit HaIr, einem Tel Aviver Zentrum für hebräische und israelische Kultur, auf die Beine gestellt: „The Prom-Ass-ed Land“ – ein Wortspiel, „gelobt verarschtes Land“ könnte der Titel lauten.

Gezeigt wurde ein Zauberland mit Zuckerwatte, blinkenden Robotern und riesigen Schaumstoffbrüsten, in die man sich fallen lassen konnte. Über dem Nachbarhaus, dem des israelischen Nationalpoeten Bialik, war ein riesiger gefilter Fisch platziert – der Inbegriff ostjüdischer Küche. „Im Prinzip wollte ich zeigen: Wir können alles karikieren, auch das Allerheiligste, den Nationalpoeten.“

An diesem Abend zog Engelmayer zum ersten Mal den rosa Overall an, ließ sich in einer Muschel einschließen, um daraus wie Venus wieder aufzusteigen. Mitunter wird dies auch bei Bat-Mitzva-Feiern gemacht. 12-jährige Mädchen steigen aus einer Muschel, um so den Beginn des Erwachsenseins zu markieren. „Als sie die Muschel schlossen, war ich sicher, ich sterbe. Es war so unsagbar heiß“, sagt Engelmayer. Doch er lebte noch, als sie die Muschel öffneten und Shoshke zu Engelmayers zweiter Haut geworden war.

Die Verwandlung zu Shoshke fiel ihm leicht, denn er kannte sie da schon seit zwanzig Jahren: als seine freiheitsliebende, unschuldige Comic-Heroine. „Ich fing zweidimensional an und es wurde dreidimensional“, sagt Zeev. Denn eines Tages hatte er den Wunsch, wie sie zu sein, sie zu spüren, sich als Shoshke von seiner Männlichkeit zu befreien, und von seinen Ängsten. Und so, als dreidimensionale Shoshke, konnte er erfahren, wie es ist, furchtlos durch die Straßen zu laufen und ihre Chuzpe zu spüren.

Anders als seine rosafarbene Kunstfigur zieht der 56-jährige Engelmayer mit seiner Nickelbrille die Blicke nicht auf sich. Keiner räumt Sitzplätze für ihn in der Bar. Kommt er als Engelmayer und nicht als Shoshke zu Verabredungen, sind Freunde enttäuscht. „Sie verbergen es nicht einmal.“

Shoshke aber verleiht ihm Riesenkräfte. In Städten wie Berlin ist Nacktheit keine große Provokation. In Israel jedoch gehört eine Portion Wahnsinn dazu, so durch die engen Gassen der Jerusalemer Altstadt zu laufen. Die Altstadt ist malerisch, aber auch ein Ort äußerster Spannung, immer wieder gibt es dort Gewalttätigkeiten zwischen Israelis und Araber*innen. „Einige sahen skeptisch aus, als ich als Shoshke durch die Altstadt lief, aber viele, ob Nonnen, ob Araber*innen, sprachen mich an, wollten Fotos mit mir.“ Es scheint, als würde in einem Land, das in permanenten kriegerischen Konflikten mit seinen Nachbarländern steht, in dem die Besatzung die Gesellschaft spaltet und das einerseits auf den Trümmern palästinensischer Geschichte und andererseits der Shoah geboren ist, Naivität das Handeln erleichtern.

Zwei Jahre lang tobte sich Zeev alias Shoshke aus: Zeev hat Höhenangst, doch als Shoshke begann er, Parcours zu machen und über Mauern zu springen. Zeev hat Angst vor großem Publikum, Shoshke singt Karaoke auf großen Bühnen. „Als Engelmayer frustrieren mich Demonstrationen. Doch Shoshke“, Engelmayer lacht und seine Augen fangen an zu leuchten: „Shoshke liebt sie“.

Als Shoshke zum ersten Mal auf einer Demonstration gegen Korruption auftauchte, dachte eine Gruppe rechter GegendemonstrantInnen, dass Shoshke Sara Netanjahu darstellt, die Ehefrau Netanjahus, und sie sich über sie lustig machen würde. In der Woche darauf trug Shoshke auf der Demonstration ein Schild, das sich auf Hebräisch reimt: „Ich bin nicht Sara und Korruption ist scheiße!“ Kurze Zeit später prangte ein Foto davon auf dem Cover der New York Times.

Da verstand Engelmayer: Shoshke wird ernst genommen, und begann, ihre Identität gezielt einzusetzen. Sie wurde zur begeisterten Demogängerin, protestierte mit tausenden Geflüchteten in Tel Aviv gegen drohende Abschiebungen, demonstrierte für Frauenrechte und immer wieder gegen Korruption.

Als ihr erstmals richtig Gegenwind entgegen blies, wurde sie auch noch Politaktivistin. Veranstalter*innen eines Kulturfestivals hatten sie als Vortragende nach Jerusalem eingeladen, aber auf Drängen eines rechten Hardliners in der Stadtverwaltung wurde sie wieder ausgeladen. Shoshke setzte unter Berufung auf die Freiheit der Kunst durch, dass sie teilnehmen kann. Wegen Drohungen der ultranationalen Organisation „Lehava“ (Flamme) wurde sie das gesamte Festival über von Sicherheitsleuten begleitet.

Im Wissenschaftsmagazin Marker wurde Shoshke Ende 2019 zu einer der 100 einflussreichsten Personen des Landes gekürt: „Shoshkes Protestformen sind einzigartig und sie passieren in einem Land, das nicht genug Proteste kennt. Und wenn doch, sind sie kraftlos“ lautete die Begründung. Und: „Shoshke hat die Fähigkeit, Menschen hinter einer Idee zu versammeln.“

„Shoshkes Protestformen sind einzigartig, und sie passieren in einem Land, das nicht genug Proteste kennt“

Begründung zu Shoshkes Wahl unter die 100 einflussreichsten Israelis

Als Engelmayer vor einem Jahr an einer Wahlkampagne der rechtsnationalen regierenden Likud-Partei vorbei kam, wurde eine weitere Qualität seines Alter Egos sichtbar: Die der Adbusterin – einer, die politische Parolen persifliert. „Wir oder sie“, prangte in großen Lettern über dem Likud-Plakat. Auf der rechten Seite wehte die israelische Flagge, auf der linken blickte ein vermummter Terrorist mit palästinensischer Flagge in die Kamera. „Die rassistische Kampagne war quer über die Stadt plakatiert. Ich wollte nicht, dass meine Töchter diese Poster sehen.“ Er eilte nach Hause, zeichnete eine Hand mit Porträts von VertreterInnen unterschiedlicher Religionen auf die Fingerspitzen und schrieb darüber: „Wir oder wir!“, daneben ein Herz. „Trefft mich am Zentralen Omnibusbahnhof, wenn ihr mit mir diese rassistische Kampagne beenden wollt“, postete Engelmayer schnell noch auf Facebook, bevor er zur Druckerei fuhr und sich umzog. Als Shoshke das erste rassistische Plakat mit seinem überklebte, begleitet von einem Fernsehteam, war sein Post bereits tausendmal geteilt.

Zehn Tage später war Shoshke in einer Talkshow im Fernsehen, um mit dem Initiator der Likud- Kampagne zu diskutieren. Kurz vor Beginn rief ihn die Stadtverwaltung an. Sie hatten beschlossen, die Plakate abzunehmen.

Dass tatsächlich auch diejenigen, denen Shoshke gefährlich werden könnte, ihren Einfluss verstanden haben, darauf deutet eines der jüngsten Kapitel von Shoshke hin. „Die Performance ‚Blutende Demokratie‘ war ein Verzweiflungsakt“, sagt Engelmayer. Shoshke hatte gerade an einer Demonstration teilgenommen. Es ging um die Korruptionsvorwürfe gegen den Ministerpräsidenten Netanjahu und um die geplante Einführung des sogenannten „Kulturförderungsgesetzes“, das staatliche Förderung von der Loyalität zum Staat Israel abhängig machen sollte. „Ich hatte das Gefühl, dass wir zu zahm sind, dass es dramatischerer Akte bedarf, um deutlich zu machen, dass wir dabei sind, unsere Demokratie zu verlieren.“ Und so zog Shoshke mit einer weiteren Performance-Künstlerin vor die Knesset und übergoss sich mit roter Farbe: „Unsere Demokratie blutet“, stand auf dem Schild, das die beiden hochhielten.

Die Performance ging schnell viral. „Bisher waren alle meine Aktionen humoristisch gewesen, irgendwas war immer lustig daran. Doch diese hier war härter.“ Härter auch die Reaktion darauf: Die Polizei kam, schubste sie, wollte sie festnehmen, doch für eine Weile wollte niemand Shoshke anfassen, weil sie über und über mit Farbe beschmiert war.

„Ich spuckte die ganze Zeit rote Farbe, die ich vorher verschluckt hatte. Also holten sie einen Krankenwagen, der mich ins Krankenhaus brachte.“ Zwar wurde das Verfahren gegen ihn später eingestellt, aber am nächsten Morgen erhielt Engelmayer einen Anruf von der Zeitung Jediot Acharonot, für die er 21 Jahre als Illustrator gearbeitet hatte. Der Herausgeber Arnon Moses stand gerade erst im Verdacht, korrupte Deals mit Netanjahu gemacht zu haben. Eine Redakteurin teilte ihm mit, dass die Zeitung die Zusammenarbeit mit ihm beenden müsse wegen notwendiger Kürzungen. „Seit 21 Jahren war von Kürzungen die Rede. Und immer konnte ich weiter machen“, sagt er. „Diesmal war klar, wen ich angreife. Ich glaube, dass Netanjahu zum Hörer gegriffen hat.“

Die Kündigung verletze ihn, sagt er. Aber zum Glück habe er Shoshke an seiner Seite. „Die gibt nicht auf.“

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