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Das Leben als langer Marsch ins Nichts

Hommage von Fans für Fans: Autor Navid Kermani ist großer Neil-Young-Gläubiger. Am Hamburger Thalia-Theater lädt er zur „Nacht der von Neil Young Getöteten“

Von Jens Fischer

Fans sind peinlich: Vergötterer, tragen T-Shirts mit Glaubensbekenntnis, machen aus Erlebnissen des Alltags eine Religion, immunisieren gegen jede Art profaner Einwand. Sie preisen zum Beispiel die hypnotisch-leichte Schwere des Sounds von Neil Young als wundersames Erlösungswerk. Das sind zumeist alte weiße Männer, die ihr Resthaar ehrwürdig ums Haupt fusseln oder als dünnen Zopf im Nacken wippen lassen.

Nicht wenige von ihnen pilgern derzeit ins Thalia-Theater. Steht dort doch das „Das Buch der von Neil Young Getöteten“ auf dem Spielplan. Der Young-Gläubige Navid Kermani, Jahrgang 1967, promovierter Analytiker des Islams und Christentums, hat das Buch bereits 2002 als Bibel herausgegeben, in der er die Verse des Songschreibers wie heilige Texte auslegt und dabei auf „Das Buch der vom Koran Getöteten“ Bezug nimmt, das von Mystikern berichtet, die darüber gestorben sind, dem Klang der gesanglichen Koran-Rezitation gelauscht zu haben.

Nostalgiker und Ruheloser

„Zu der Zeit hörte ich oft ,Down by the River’ von Neil Young“, so Kermani, „und das zog mir jedes Mal das Herz zusammen, bis ich für eine Zehntelsekunde meinte, ersticken zu müssen. Von daher erschien es mir keineswegs kurios oder unglaubwürdig, dass Menschen durch einen Gesang getötet worden sein sollten.“

Ebenfalls daran zu glauben scheint Regisseur Sebastian Nübling, Jahrgang 1960, nutzt er doch Youngs Œuvre als Daseinssoundtrack und inszeniert passend dazu das autobiografische Huldigungs-Essay Kermanis auf der großen Thalia-Bühne. Mit sieben Darstellern als Jünger, die sich als Ich-Erzähler und Sänger abwechseln. Für Fans ein willkommener Event, da der Gitarrero mit der nasalen Piepsstimme selbst gerade keine Konzerte, sprich Gottesdienste, angekündigt hat und als Ökoaktivist sowie Kämpfer gegen Trump und den Klangqualitätsverlust durch digitale Audio-Files unterwegs ist.

Die einen belächelten Youngs Kunst als „handtuchweiche Mädchenmusik“, andere bejubelten Punk-geistige Predigten eines Grunge-Papstes und Noise-Avantgardisten. Oder umgekehrt. Egal, meint Kermani: Für alle liege hinter den zerbrechlichen Liebesballaden, rumpeligen Countrysongs und lärmekstatisch Songstrukturen zerschlagenden Improvisationen die Tür zum verlorenen Paradies, ein pränataler Sehnsuchtsort, den jeder durchs In-die-Welt-Geworfensein verlassen hat.

Kermani interessieren vor allem diese manisch rückwärtsgewandten Aufbrüche des Künstlers. Er will erklären, „warum er zugleich der Nostalgiker und der Ruhelose unter den Rockmusikern ist, der jede Veränderung als Verlust besingt, aber den Stillstand fürchtet wie der Teufel das Weihwasser“.

Nübling hat daher auf Stillstand verzichtet, lässt sein Ensemble und die Bühne im ewigen Kreislauf rotieren. Darauf hat Eva-Maria Bauer verwahrloste Restbestände eines Idylls platziert: die Welt als zerstörtes Paradies. So eine schmuddelige Ecke Stadtpark mit überquellendem Mülleimer, kaputter Laterne, schäbig gestutzten Bäumen und wirrem Gestrüpp, aus dem ausgestopftes Feld-, Wald-, Wiesengetier grüßt. Ein Schauspieler macht zudem den Specht, indem er gegen einen Holzstamm hämmert.

Er und die Kolleg*innen tragen zeitgemäße Variationen des schäbiges Baumwollhemd-Designs Neil Youngs, lassen sich auch applizierte Gesichtshaare zu allen möglichen Scheußlichkeiten in Sachen Bart und Koteletten drapieren. So stimmen sie „Tonight the night“ in wundervollem Harmoniegesang an – während Babygeschrei dröhnt.

Euphorisches Porträt

Das ist auch der Ausgangspunkt im Buch des jungen Vaters Kermani: „Als wolle Gott ihr die Erkenntnis einbläuen, dass sie das Paradies verlassen habe, als wolle er ihr die Erinnerung rauben oder, schlimmer noch, die Geborgenheit zu einer bloßen Erinnerung gerinnen lassen, bekam meine Tochter regelmäßig abends um acht oder halb neun Blähungen.“ Und nur, oh göttliches Wunder, wenn die Weltschmerzmusik des Kanadiers die Ohren des Babys tröstend streichelt, wird es ruhig. Kein Mozart, Leonard Cohen oder Antônio Carlos Jobim hilft – nur dieser weinerliche Emotionsberserker Neil Young.

Das ist auch schon das ganze narrative Kon­strukt des Abends. Die sieben Männerdarsteller*innen versuchen ein Neugeborenes mit Neil-Young-Musik zu entblähen, wollen das Schmerzgeschrei in ein Lächeln verwandeln. Umkreisen daher den Kinderwagen mit einer zarten „Old Man“-Version.

Es gelingt Nübling mit Kermanis Liturgie nicht nur ein euphorisches Porträt Neil Youngs. Mit theatralem Denken auf den Flügeln der Musik und beiläufig servierten Purzelbäumen ins Grundsätzliche entsteht aus und mit den Liedern auch eine existenzielle Selbstvergewisserung – alle feiern das Leben als langen Marsch ins Nichts.

Mit am Anfang steht das Verlassen des „Sugar Mountain“, eine Klage über das Ende des Paradieses Kindheit. Dann schnallt sich das Personal E-Gitarren um und rockt „Pocahontas“ mit hinreißendem Kreisch-Gesang, als wäre es ein AC/DC-Hit. Später versinken alle pastoral in „Mother Earth“, während jemand die Motorsäge wider die Bühnenbildbäume anschmeißt. Das wirkt aber nicht wie ein plumper Regie-Gag, da die Szene mit hübsch karikierter Mackergeste inszeniert, also gebrochen ist. Konterkariert ist auch „Heart of Gold“, nämlich unterlegt von billigen Keyboard-Sounds, mit denen Young in den 1980er-Jahren kokettierte. Auf der Suche nach dem Moment, in dem Rausch und Bewusstsein sich in epischen Rockorgien mit jenseitig verhallten Splittertönen berühren, wird überkandidelt mit Wind sowie Nebel und das Gitarrensolo auf einem Cello gespielt.

Multiinstrumentalistin Carolina Bigge als Neil-Young-Look­alike, Felix Knopp als androgyner Rock-Performer und Gabriela Maria Schmeide als prolliger Verehrer sorgen dafür, dass dieser musikalische Trip nicht bloß ein Cover-Band- oder Liederabend geworden ist, sondern eine liebevolle, kauzig gefachsimpelte, hinreißend musizierte Hommage von Fans für Fans. Und die sind an diesem Abend gar nicht hartgesotten, also peinlich. Sondern echt knuffig.

Die Nacht der von Neil Young Getöteten“: So, 5. 1., 19 Uhr, Thalia-Theater; nächste Aufführungen: 13. 1.; 12., 18. + 28. 2.

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