Der Hausbesuch: Das Exil immer dabei

Jihan El-Tahri war Nahost-Korrespondentin, Kriegsfotografin und Dokumentarfilmerin. Jetzt ist sie in Berlin angekommen – beinahe.

Jihan El-Tahri

Sie sei ein „wandelndes Pulverfass in einem festen Beruf“, sagt Jihan El-Tahri Foto: Amélie Losier

Sie sieht sich als Brückenbauerin zwischen zwei Welten und zwei Identitäten. Zu Besuch bei Jihan El-Tahri.

Draußen: Es ist ruhig abseits der Hauptstraßen um die Eisenacher Straße im Stadtteil Berlin-Schöneberg. Gesichtslose Neubau-Wohnhäuser reihen sich an Wohnblöcke, selbst der Supermarkt an der Ecke trägt keinen Markennamen, er heißt „Supermarkt“. Auch Jihan El-Tahris Klingel trägt keinen Namen, zumindest nicht ihren, denn sie wohnt hier nur übergangsweise.

Drinnen: Im Wohnungsflur liegt ein roter Teppich, auf einem Sessel im Wohnzimmer eine reich verzierte blaue Decke aus dem Senegal. Sie sind El-Tahris einzige persönliche Einrichtungs­gegenstände in der Wohnung. Sie nutzt die Räume hauptsächlich zum Schlafen und Arbeiten. Wenn es die Temperaturen zulassen, sitzt sie auf dem Balkon in der Sonne, vor ihr der Laptop, links ein Glas Orangensaft, rechts eine Zigarettenschachtel rote Gauloises.

Ein neues Kapitel: Seit beinahe einem Jahr hat El-Tahri den ersten festen Job ihres Lebens. Sie arbeitet jetzt bei Dox Box, einer NGO, die junge afrikanische und arabische Filmschaffende fördert. „Ich habe gefragt, ob sie sicher sind, dass sie eine 55-jährige Frau anstellen wollen, die noch nie einen Job hatte“, sagt El-Tahri und lacht. „Ich bin doch ein wandelndes Pulverfass in einem festen Beruf.“ Aber sie glaubt an das Projekt und vor allem stehe die Organisation, genau wie sie selbst, mit einem Bein im Nahen Osten und in Afrika und mit dem anderen in Europa.

Berlin: Hier sei es wichtiger, Neues zu schaffen, als Altes vorzuzeigen. „Ich liebe die Stadt. Du kannst alles sein, was du willst, und trotzdem ist es nicht so unpersönlich wie beispielsweise New York“, sagt El-Tahri und zündet sich eine Zigarette an. Vor allem schreibe einem hier kaum jemand etwas vor. Das merke sie bei der Sprache. In Berlin habe ihr noch niemand aufdrängen wollen, Deutsch zu lernen. Dadurch sei von selbst der Wunsch entstanden, es zu tun. „Die Menschen hier nehmen mich an, also sollte ich auch sie annehmen.“

Kindheit unterwegs: Als Kind eines ägyptischen Diplomaten kam El-Tahri in Beirut zur Welt und wuchs in Panama, Finnland, England und Tunesien auf. „Ich kam unterwegs auf die Welt und das Problem ist, dass ich nie angehalten habe“, sagt sie. Ägypten sah sie zum ersten Mal mit 13 Jahren.

Stempel

Stempel, die El-Tahri beim Spazieren fand. Jez will sie sie für ein Kunstprojekt nutzen Foto: Amélie Losier

Ironie der Geschichte: Nach dem Politikstudium in Kairo wollte El-Tahri Akademikerin werden, sie hatte bereits ein Stipendium für Oxford. Dann entschied ihr Vater, seine Tochter solle als Frau nicht alleine im Ausland leben. El-Tahri folgte stattdessen ihrer anderen Leidenschaft, der Fotografie, und heuerte bei der Presseagentur Reuters an. Indem er sie dazu bringen wollte, bei der Familie zu bleiben, hatte ihr Vater unabsichtlich den Grundstein für ihr ständiges Weiterziehen gelegt.

Kriegsfotografin: Einer ihrer ersten Jobs war die Berichterstattung aus dem libanesischen Bürgerkrieg. Es war ein rauer Start für El-Tahri, aber auch eine gute Schule. Sie wurde Nordafrika-Korrespondentin für die Washington Post und begann, in ganz Nordafrika und im Nahen Osten zu arbeiten.

Die Macht der Bilder: Es war während des Golfkrieges 1990, als El-Tahri zu dem Schluss kam, dass bewegte Bilder mächtiger sind als geschriebene Texte und Radiobeiträge. Mehr als alles andere prägten die Fernsehbeiträge der KollegInnen die Nachrichten. Nachrichten, die unter Zeitdruck zwangsläufig oft ungenau waren. El-Tahri entschied: „Ich wollte da nicht mehr mitmachen.“ Sie begann, Dokumentarfilme zu drehen. „Da hatte ich Zeit und die Möglichkeit, tiefer zu gehen und trotzdem mit bewegten Bildern Menschen zu erreichen.“

Familie: 15 Jahre lang gab es einen Ehemann in El-Tahris Leben, jetzt sind sie geschieden. Ihre zwei Töchter wohnen gerade in England und Frankreich. Deshalb brauche sie immer zwei Schlafzimmer, sagt sie und deutet über den Flur auf zwei Zimmertüren: eines für sie, eines für ihre Töchter.

Zu Hause: El-Tahri überlegt lange. Zuhause, das sei Ägypten, dessen Pass sie habe und wo sie sieben Jahre gelebt hat. Aber selbst dort fragten die Leute, wo sie herkommt. „Das Konzept Exil ist mir immer sehr bewusst, auch wenn ich mich nie als Exilantin betrachte.“ Das Exil sei ein Ort in sich, den man dabei habe. „Ich glaube, ich trage mein Zuhause immer in mir.“

Weltbürgerin: Sie lebte in über 30 Ländern, spricht sieben Sprachen und kann sich überall einfügen. „Das Konzept der Weltbürgerin war für mich nicht nur ein Klischee“, sagt El-Tahri. Ihr kam nie ein anderer Gedanke – bis zum 11. September 2001. Plötzlich musste jeder klassifizierbar sein, Muslim oder Christ, arabisch oder nicht? Sie lehnt diese Idee der Zugehörigkeit ab. „Ich gehöre voll und ganz dazu, wo auch immer ich mich im Moment befinde.“

Blick vom Balkon

Der Balkon in Berlin, auf dem El-Tahri bei gutem Wetter arbeitet, denkt, raucht Foto: Amélie Losier

„Wir“ und „ihr“: Wenn El-Tahri von Europa und Afrika spricht, springt sie zwischen Identitäten. Sie sagt „wir“ und „ihr“. „Wir“, weil sie sich als Teil des globalen Südens sieht, und doch gehört sie gleichzeitig ebenso zum „ihr“, zu Europa. „Ich werde aber nie ganz ein Teil des ‚ihr‘ sein, weil ich hier nie so gesehen werde“, sagt sie. In Ägypten hingegen fühle sie sich zwar zugehörig, dafür könne sie dort nicht frei sprechen und arbeiten.

Zwei Seiten: Im Laptop sucht sie dazu eine Zeile des palästinensischen Dichters Mahmud Darwisch über die Göttin Anat, gleichzeitig zuständig für Krieg und Liebe: „Zwei Frauen, unversöhnlich, die eine bringt Wasser zu den Quellen, die andere treibt Feuer in die Wälder.“ So sehe sie auch sich selbst. „Es sind zwei getrennte Teile, aber beide sind ich“, sagt sie. Wie ein Symbol dafür habe sie bei einem Spaziergang zwei alte Stempel gefunden, die zwei Frauen von hinten zeigten. Die wolle sie jetzt für ein Kunstprojekt verwenden.

Unser Autor stand schon als Kind auf Skiern, heute verspürt er wegen des Klimawandels vor allem eines: Skischam. Für die taz am wochenende vom 15. Februar nimmt er Abschied von der Piste und fährt ein letztes Mal. Außerdem: Wer gewinnt die Bürgerschaftswahlen in Hamburg? Auf Wahlkampftour mit den Kandidaten der Grünen und der SPD. Und: Waffel kann auch Döner sein, Obstdöner. Über das heilendste Gericht der Welt. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Eine Brücke: Ihre Aufgabe sieht El-Tahri darin, eine Brücke zu sein zwischen Afrika, dem Nahen Osten und Europa, zwischen dem „Wir“ und dem „Ihr“. Es gehe darum, im globalen Zusammenleben die Perspektive des globalen Südens zu hören, eine gemeinsame Sprache zu finden. „In der Vergangenheit hat der Norden dem Süden immer wieder erzählt, was wir sind oder zu sein haben“, sagt El-Tahri. „Wir sehen uns darin aber nicht.“ Sie spreche die Sprache des Nordens und könne dadurch der Perspektive des Südens Gehör verschaffen.

Der Bruch: El-Tahris Filme haben oft einen ähnlichen Kern. Ob im Südafrika nach Nelson Mandela, in Kuba oder in Ägypten. Immer steht der Moment im Mittelpunkt, an dem ein Bruch stattfindet, an dem Visionen von Freiheit und Unabhängigkeit zusammenbrechen oder sich ins Gegenteil verkehren. „Es ist ein Versuch, festzuhalten, wie alles schiefging“, erklärt sie. „Weil es nicht schiefgehen sollte. Weil am Anfang immer die Vision einer wundervollen Welt stand.“

Ankommen: Eines Tages würde sie gerne einen Ort zum Ankommen finden. Wo, weiß sie nicht. Nur dass viel Platz für all ihre Bücher, Bilder und Schallplatten da sein müsste, die gerade auf mehreren Kontinenten verstreut sind, von Jordanien bis Johannesburg. „Aber das wäre auch ein Wunsch nach Stabilität – und noch habe ich überhaupt kein Verlangen danach.“

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