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Archiv-Artikel

„Und dann wird's endlich schön“

SCHLUCKSPECHTE Wenn sich Harry Rowohlt und Ralf Sotscheck unterhalten, kann man ein Buch daraus machen. Hat man auch

INTERVIEW RALF SOTSCHECK

Ralf Sotscheck: Acht Jahre sind seit unserer Reise an die irische Westküste vergangen. Du trinkst nicht mehr, ich rauche nicht mehr. Was ist passiert?

Harry Rowohlt: Was? Du rauchst nicht mehr?

So gut wie nicht mehr. Ich bin künftiger Exraucher.

Ach so! Ich dachte schon, du hast zwei Aufnahmegeräte dabei, und eins davon qualmt. Durch Nichtrauchen könntest du korpulent werden. Hast du das schon bedacht? Aber ich bin auch durch Nichtsaufen fett geworden, weil ich plötzlich Süßigkeiten mag. Der Organismus versucht, egal wie, an Kohlehydrate heranzukommen. Grauenvoll. Wenn ich früher eine Woche auf der Rolle war, konnte ich an feste Nahrung gar nicht denken, ohne zu kotzen. Aline Crumb hat mich um diese Methode des Abnehmens sehr beneidet und gesagt, das soll ich mir patentieren lassen: Harry’s Slimming Centers.

Du hast seit einem Jahr keinen Alkohol angerührt?

Ich habe Polyneuropathie, eine Krankheit, die ich nur empfehlen kann. Erstens merkt man nicht mehr, wenn man kalte Füße hat, und zweitens kann man wunderbar Benefizveranstaltungen abblocken. Neulich wollte eine Dame für die Deutsche Muskelschwundhilfe eine Benefizlesung mit mir veranstalten, da habe ich sie angeblafft: „Erlauben Sie mal, ich bin Polyneuropath, aber weil wir im Gegensatz zur Bauernschaft und den Schwulen keine Lobby haben, werden wir mit Vitamin-B-Komplex abgespeist.“ Wir Polyneuropathen könnten übrigens unsere eigenen Benefize machen. Das ist eine absolute Kreativenkrankheit. Heinz Reincke, Jan Fedder – alle haben Polyneuropathie „mit unklarer Genese“. Das ist ein Euphemismus für Suff. In 33,3 Prozent der Fälle liegt es am Suff. Es könnten natürlich auch 66,6 Prozent sein beziehungsweise 66.66 Periode. Wer weiß das denn schon so genau?

Und bei dir?

Sag ich doch: unklare Genese. Es gibt auch die weit verbreitete diabetesbedingte Polyneuropathie. Lucius Reichling, der Geiger von Truck Stop, hat das daran gemerkt, dass ihm die Pediküre den rechten kleinen Zeh abgeschnitten hat. Das heißt, gemerkt hat er es nicht, er hat nur gesagt: „Was ist das denn für eine Sauerei?“ Und seitdem trägt er Spezialeinlagen und hat immer einen schnittigen kleinen Barhocker auf der Bühne, weil man als Geiger ja viel steht. Ich war auch einmal bei der Polyneuropathieselbsthilfegruppe und bin da laut schreiend wieder weggerannt. Das heißt, ich wäre gerannt, hätte ich rennen können. Der einzige Vorteil bei diesen Leuten war, dass Diabetiker nicht zugelassen waren. Das habe ich sehr genossen. Wenn du nämlich sonst irgendwohin kommst, sitzen da schon all die Diabetiker und brüllen: „Ik bün all dor!“ Vor denen war man also immerhin sicher. Wenn die nämlich keine Polyneuropathie hätten, hätten sie gar nichts.

Aber bei dir ist es ja anscheinend wieder besser geworden.

Durch die stramme Ethanolkarenz, die ich schiebe. Der Neurologe, der mir das nie zugetraut hätte, sagte, weil ich das so schön durchgehalten habe, darf ich mir durchschnittlich viermal pro Jahr gepflegt die Kante geben. Das erste Mal war voriges Jahr in der Nacht vom 20. auf den 21. Dezember in Leer in Ostfriesland. Da habe ich fast einen Liter zollfreien Paddy getrunken, und das Ganze mit Guinness vom Fass verdünnt. Aber ich war ja nicht im Training. Und danach – wie es bei Wilhelm Busch heißt: Das Schlüsselloch wird leicht vermisst, wenn man es sucht, wo es nicht ist – hatte ich den linken Arm in Gips. Da hab ich wohl zu viel gesoffen. Und beim zweiten Mal, in der Nacht vom 26. auf den 27. März, feierte ich im „Klabunt“ in Frankfurt in meinen Geburtstag hinein, und zwar mit selbst gekeltertem Apfelwein. Danach brauchte ich keinen Gipsarm, da habe ich zu wenig gesoffen. Das muss sich offenbar einpendeln bzw. „approximieren“, wie der Arzt sagt.

Und der hat die vier Besäufnisse im Jahr freiwillig genehmigt, ohne Druck deinerseits?

Ja, spontan! Der einzige Nachteil ist, dass man nicht mehr in die wunderschönen Kneipen kann. Da bin ich früher immer gewesen, aber ich habe einfach keine Lust mehr, der Welt zu beweisen, wie viel Apfelsaftschorle ein Mann verträgt. Um einen herum werden sie immer munterer und immer lauter und immer dümmer, und man selbst … Ich kenn das natürlich von früher, als ich noch gesoffen habe. Da blieb ich auch immer nüchtern, wie du weißt.

Nö, weiß ich nicht.

Doch. Ich habe offenbar immer an meiner Leber vorbeigesoffen, das ging direkt in die Fußsohlen. Nikolaus Heidelbach hat das am schönsten charakterisiert: Man steht auf Kopfsteinpflaster, und die Füße melden „Treibsand“ nach oben. Der Nachteil ist, dass ich mich immer dazu zwingen muss, albern zu sein, und danach hat man immer noch den ganzen Tag vor sich, weil Albernsein ja ziemlich schnell geht.

Ich kenn das auch, wenn man der einzige Nüchterne ist, weil man beim Strohhalmziehen zum Fahrer auserkoren wurde. Das ist ziemlich grauenhaft.

Ich freu mich schon auf den Urlaub, wo ich zum ersten Mal nüchtern den Mietwagen in den Graben fahren werde, denn wer besoffen nicht fahren kann, kann es nüchtern schon gar nicht.

Urlaub in Griechenland, wie immer?

Ja, aber es wird wieder mal kein Urlaub sein. Ich nehme mir Arbeit mit. Ich frage, was ist das für ein Urlaub? Zwölf Tage ist man da und kommt mit achtzig übersetzten Gedichten von Shel Silverstein zurück. Mein Freund und Genosse Laiki merkte immer, wenn ich so was Dichterisches bekam, und fragte dann lauernd, ganz Altstalinist: „Soll ich für Ruhe sorgen?“ Und das in der Kneipe! Ich hab da immer auf dem Papiertischtuch gedichtet. Unser damaliger, inzwischen verstorbener Gemeindehirte Barba Christos – Onkel Christus – kletterte bei unserem inzwischen auch verstorbenen Nachbarn Iórgos aufs Dach, wo sich zwei deutsche Touristinnen oben ohne bräunten, und der Hirte fragte, ob er vielleicht mal deren Brüste berühren dürfe. Ja ja, dürfe er. Ganz vorsichtig mit seinen „hornigen Händen“, wie es bei Ringelnatz heißt, erst die erste, dann die zweite, dann die dritte, dann die vierte, und dann sagte er: „Plötzlich ist das Meer voller Joghurt, und ich habe keinen Löffel.“ Sein Nachfolger, der neue Gemeindehirte, hat sich im Gegensatz zu ihm ein Moped und statt eines Hundes eine Ziege zugelegt. Die brauchen im Gegensatz zu einem Hund keine zusätzliche Nahrung, sondern fressen mehr oder weniger das Gleiche wie die Schafe, haben aber einen naturwüchsigen, viel größeren Grimm Schafen gegenüber, als Hunde je aufzubringen imstande wären, und außerdem können sie sich im Gegensatz zu Hunden Uhrzeiten merken. Der Gemeindehirte sagt: „Um 18 Uhr vor der Kneipe, zack, zack!“ Und dann kommt die Ziege mit den ganzen Schafen um Punkt 18 Uhr an und sagt: „So, Chef, das wäre erledigt. Was machen wir jetzt?“ Nicht alle Neuerungen sind abzulehnen.

Jedes Jahr Griechenland. Ist das nicht langweilig?

Das muss sein. Voriges Jahr haben wir es nicht gemacht – und prompt … Ich habe noch im November gesagt, seitdem ich nicht mehr saufe, war ich kein einziges Mal erkältet. Das habe ich wohl zu laut gesagt. Das hat der Suff gehört, und seitdem war ich nur erkältet. Ich muss einmal im Jahr nach Griechenland, sonst wird das nichts, sonst komme ich nicht über den Winter.

Zurück zur Arbeit. Du hast doch auch noch ein paar Preise gewonnen in den letzten acht Jahren, oder?

Ja, aber jetzt ist das wie abgeschnitten. Du nanntest das meinen Trophäenwald. In falscher Bescheidenheit bin ich davon abgekommen: Ich nenne das jetzt meinen Trophäenhain. Was natürlich noch viel angeberischer klingt.

Was kam denn da noch hinzu?

Zum zweiten Mal der Deutsche Jugendliteraturpreis. Glücklicherweise zum zweiten Mal, weil das so eine hässliche massive Bronzestatue ist, die einem die gesamte ausgewogene Wohnungseinrichtung kaputt haut. Wenn man aber zwei davon hat, heben sie sich gegenseitig auf. Nikolaus Heidelbach hat auch zwei. Damit machen wir jetzt immer Power Walking. Das sind genau fünf Kilo links und fünf Kilo rechts. Bei meiner Dankesrede habe ich mich allerdings unbeliebt gemacht. Die zweite Trophäe habe ich nämlich für mein Lebenswerk bekommen, und da habe ich gesagt, wenn Lebenswerk bedeutet, dass ich nie wieder Kinderbücher übersetzen müsse, dann vielen Dank!

Und dann bist du doch auch noch gemalt worden, so richtig in Öl.

Noch nicht. Ich werde demnächst gemalt werden. Ich sagte zum Fahrkartenverkäufer im Mobility-Center: „Sie erraten nie, weshalb ich nach Berlin fahre. Ich werde mich abmalen lassen!“ Er: „Das ist sehr praktisch: Mein Schwiegervater hatte sich abmalen lassen, und dann lebte er nur noch acht Wochen. Da hatten wir denn gleich ein schönes Andenken an ihn.“ Das Gemälde soll für die nächste Frankfurter Buchmesse für den Kein-&-Aber-Stand sein, weil es überall erleuchtete Schwarzweißfotos der Autoren gibt. Peter Haag von Kein & Aber hat sich gedacht, ein richtiger Ölschinken, das hätte doch was. Von dem britischen Maler Edmund B. Gordon. Nicht schlecht, was?

Den Maler kenne ich nicht.

Siehste! Wie denn auch? Iren und Juden können nicht malen.

Na, ein paar gibt es schon.

Wen denn zum Beispiel?

Jack B. Yeats, den Bruder des Literaturnobelpreisträgers William Butler Yeats.

Den habe ich nicht vor dem geistigen Auge. Das war doch die Schwierigkeit beim Irischen Raben vom Haffmans-Verlag: Man fand keine Illustrationen. Und mir ist zu spät Danny Shanahan vom New Yorker eingefallen.

Die Iren sind eben kein visuelles Volk. Deshalb findest du bei Straßenschildern immer eine Erläuterung. Bei Stoppschildern steht „Stop“ drunter, und bei Vorfahrt-achten-Schildern steht „Vorfahrt achten“ drunter.

Klar. Deshalb können auch die Juden als Volk des Buchs nicht malen. Bei denen kommt das Abbildverbot hinzu. Abstrakte Malerei empfinden sie zu Recht als Gojim Naches. Wenn man schon malt, dann soll man auch was erkennen können, aber wenn man nichts erkennen können darf, lässt man es besser gleich.

In der „Lindenstraße“ machst du immer noch mit?

Ich könnte dir eine meiner gelungensten Gemeinheiten der letzten Wochen erzählen. Dazu muss man aber wissen, wer Ludwig Haas ist. Der spielt in der „Lindenstraße“ den Doktor Dressler, den Rollstuhlfahrer. Das vergessen wir jetzt, das wissen wir jetzt, aber wir tun jetzt so, als hätten wir es schon immer gewusst.

Joris Gratwohl, das ist unser Quotenschweizer, der als Alex auch bei der „Lindenstraße“ mitspielt, war in der Sendereihe „Berg und Geist“ zu sehen, was mehr oder weniger eine Kontaktanzeige war. Er stand da auf einer Geröllhalde, wie Gipfel eben aussehen, und sagte, er hätte zurzeit keine feste Freundin. Da hat ihm eine kleine Italienerin aus Nürnberg, ein Gemüsehändlerstöchterlein, ein Fotoalbum von sich geschickt, weil sie sich in ihn verknallt hatte – zuerst Babybilder, dann Fotos mit ihren Geschwistern, damit er sich ein umfassendes Bild von ihr machen konnte, und Steinbock sei sie auch. Zwischendrin schrieb sie: „Was hast du bloß mit mir gemacht?“ Das zeigte er mir mit einer Mischung aus Entsetzen und Stolz. Ich blätterte das Album durch und sagte immer wieder: „Unglaublich! Unglaublich!“ Und dann gab ich ihm das Album zurück und sagte noch einmal: „Unglaublich! Ein identisches Fotoalbum hat Ludwig Haas gekriegt.“ Und Joris Gratwohl hat das fünf Sekunden lang geglaubt.

Das waren die schönsten fünf Sekunden meiner gesamten „Lindenstraßen“-Laufbahn. (hustet laut und lange)

Harry, dein Husten klingt nicht gut.

Nach dem Essen wird geraucht, und nach dem Rauchen wird gehustet, das ist nun mal so. Außer natürlich bei Nichtrauchern wie dir, dem künftigen Exraucher.

Deine Irlandreisen hast du wegen des Rauchverbots eingestellt, deine Lesereisen hast du wegen der Polyneuropathie eingeschränkt, aber ab und zu gehst du noch auf Tour?

Neulich war ich mit dem Romancier Frank Schulz in Kiel. Dort haben wir aus seiner Hagener Trilogie vorgelesen. Weil ich so viele verschiedene Stimmen zu bedienen hatte, waren die Stellen mit Boss-Marker-Farben markiert. Deshalb sagte ich zum Publikum: „Wir müssen hier schnell noch was klären. Könnt ihr mal kurz weggehen?“ Bei Mario Barth im Berliner Olympiastadion wären die Leute tatsächlich gegangen, alle 70.000. Wenn der Stadionsprecher was sagt, dann macht der Berliner das auch, egal, was es ist.

Hack nicht immer auf uns Berlinern rum. Hier in Hamburg sitzt man mitten im Sommer vor der Tür und friert, weil man drinnen nicht rauchen darf. In Berlin gibt es wenigstens noch anständige Raucherkneipen.

Aber hier in der Bar Italia gibt es jeden Freitag unverstärkten Zigeuner-Jazz. Neulich habe ich einen Herrn namens Robert Marschall aus Minden kennengelernt, und weil ich auch gerade in Minden war, und wegen des unglaublichen Andrangs sogar an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, haben wir von Minden geschwärmt. Der war mal Mittelgewichtseuropameister, weil er als Zigeuner kein Musikinstrument beherrscht, aber auch was Künstlerisches machen wollte. Sein Bruder ist immer noch Boxer. Der hatte mal einen Schaukampf gegen einen Rummelplatzboxer, und der Rummelplatzboxer sagte immer: „Piano, piano.“ Und der Bruder von Robert Marschall dachte: „Klavier, Klavier? Was soll das denn?“ Und ist richtig in die Vollen gegangen. Er war dem Rummelplatzboxer sportlich und körperlich überlegen, sodass der ihn praktisch aus Notwehr irgendwann k. o. schlug. Als der Bruder wieder zu sich kam, fragte er: „Was sollte das denn?“ Und der Rummelplatzboxer sagte: „Ich hab doch immer: ‚Piano, piano‘ gesagt!“ – „Ja sicher, Klavier, Klavier!“ – „Nein, das ist italienisch und heißt langsam, langsam.“ – „Ach so, Entschuldigung.“ Etwas anderes, das er mir über Minden erzählt hat, kann ich hier nicht wiedergeben, weil er sonst Schwierigkeiten bekäme, denn man würde merken, was für ein kluger Mensch er ist.

Was übersetzt du gerade?

Ken Bruen ist mein 154. Buch. Ich hab neulich zwei Interview-Anfragen zu Ken Bruens Krimis mit der Begründung abgelehnt, sie sollen doch den Autor fragen. Ich sehe mich als Lokführer. Der wird ja auch dafür bezahlt, dass er die Leute befördert, und nicht dafür, dass er etwas über sie weiß. Ich weiß nichts über Bruen.

Aber du weißt doch etwas über seine Bücher.

Ach, da übersetz ich eins nach dem andern, das ist mir doch wurscht. Mein 155. Buch wird das zweite Kinderbuch von Andy Stanton sein, einem jungen Engländer. Den ersten Band hab ich schon gelutscht: „Sie sind ein schlechter Mensch, Herr Gumm“. Der zweite wird heißen: „Herr Gumm und der Mürbekeksmilliardär“. Vor Lesungen stelle ich mich gern noch ein wenig vor die Tür, um Passanten den Arm umzudrehen, und im Düsseldorf vor dem Zakk kam eine junge Frau, aber bevor ich ihr den Arm umdrehen konnte, sagte sie: „Halt, ich bin keine gewöhnliche Passantin, sondern eine verwunschene Lektorin der Patmos-Verlagsgruppe.“ Sie hat mir dieses Buch in die Hand gedrückt. Das habe ich bis Seite 8 gelesen, und dann war für mich klar, dass ich es gern übersetzen würde.

Worum geht es?

Dieser Herr Gumm ist ein ganz fürchterlicher Mensch, der ein ganz und gar verwahrlostes, dreckiges Haus hat. In seinem Küchenschrank hausen Insekten, aber keine normalen Insekten, sondern jedes einzelne Insekt hat ein Gesicht und einen Namen und einen Beruf. Da dachte ich, doch, das muss man übersetzen. Ich hatte überhaupt keine Fragen, wie man sie ja sonst immer an den Autor hat, sofern der noch lebt. Da habe ich Andy Stanton geschrieben, dass ich leider keine Fragen habe, weshalb ich ihm auch keine „Gigantische Inkompetenzliste GIL“ schicken könnte. Er schrieb mir dann zurück, das sei schade, und er könne mir dann leider auch „Keinerlei Weiterführende Antworten KWA“ geben. Er hat ein zierliches Selbstbildnis beigefügt, was mir, muss ich sagen, ausgesprochen ähnlich sieht.

Ich denke, er ist ein junger Engländer?

Na und? Du meinst wohl, junge Engländer können mir nicht ähnlich sehen. Neulich in Güstrow hat mich ein junger Mensch für eine pädagogische Zeitschrift interviewt. Warum? Weil ich mal „Die grüne Wolke“ von A. S. Neill übersetzt habe, dem Erfinder der antiautoritären Erziehung. Was hab ich denn damit zu tun?

Das war das erste Buch, das du übersetzt hast.

Ja. Aber selbst wenn ich es geschrieben hätte, wäre ich immer noch kein Fachmann dafür. Agatha Christie hat ja auch niemanden umgebracht. Weißt du eigentlich, warum ihre Romane immer in der Oberschicht spielen?

Keine Ahnung.

Sie wurde das mal gefragt, und sie antwortete: „Weil die Unterschicht zu keinen echten Gefühlen wie Reue fähig ist.“ Deshalb sei es völlig abwegig, über die Unterschicht Romane zu schreiben. Klasse!

Apropos Miss Marple: Demnächst wirst du 65. Gehst du dann in Rente?

Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Ich habe neulich mal nachgerechnet. Ich habe insgesamt fünf Jobs, die jeder für sich Hobbycharakter haben, aber alle zusammen erfordern doch den ganzen Menschen. Ich bin nicht schwindelfrei, aber keiner der fünf Jobs erfordert das. Deshalb werde ich wahrscheinlich doch ein bisschen länger mitmachen, obwohl Polyneuropathie in den Extremitäten beginnt und sich langsam zum Zentrum vorarbeitet. Leider gehört auch der Kopf zu den Extremitäten. Ich werde also im Schnelldurchlauf so dumm, wie die meisten Menschen bereits sind. Und dann wird's endlich schön.

Du hast deine Flip-Flops gegen Cowboystiefel eingetauscht. Hat das etwas mit deiner Polyneuropathie zu tun?

Das sind Maßstiefel, die habe ich mir von Steve Apeah aus Ghana bauen lassen, mit genopptem Fußbett. Die sehen aus wie ganz normale prollige Cowboystiefel von der Firma Hundertmark auf der Reeperbahn, sind aber orthopädische Maßanfertigungen, obwohl das niemand wissen darf. Dieter Faber, der mein Lieblingstonstudio leitet, sagte: „Was? Der ist aus Ghana? Steve ist aber ein ungewöhnlicher Name für einen Ghanaer.“ Und ich fragte: „Häh?“ Und er sagte, er habe neulich eine Soulgruppe aus dem Boden stampfen müssen. In Hamburg ist es ganz schwer, an Afroamerikaner zu kommen, da hat er Afroafrikaner genommen, die sind ein bisschen schwärzer im Gesicht. Wenn man ihnen sagt, was sie machen sollen, dann machen sie das besser als Afroamerikaner. Der Frontmann hieß Duah, und Dieter Faber sagte immer schön Duah zu ihm, bis der ihm steckte: „Du kannst mich auch beim Vornamen nennen.“ – „Ja, mach ich gern. Wie heißt du denn?“ Der Frontmann sagte: „Hans-Peter.“ Und der Bassist sagte: „Ich auch.“ Deshalb sagte Dieter Faber: „Steve ist aber ein ungewöhnlicher Name für einen Ghanaer.“ Er war auch in unserem propädeutischen Poetikproseminar bei Uebel & Gefährlich.

Der Ghanaer?

Ja. Uebel & Gefährlich ist eine sehr muckelige Location im Feldstraßenbunker in Hamburg. Meine Freundin Anna Mikula geht da nicht mehr hin, weil ich ihr erfolgreich weisgemacht habe, dass nach der Veranstaltung im Bereich zwischen Tresen und Herrenklo die Illuminaten ein Menschenopfer darbringen. Anna glaubt mir fast alles. Das Einzige, das sie mir nicht geglaubt hat, war meine Behauptung, dass im 4. Stock des Eppendorfer Postamts, wo keine Fenster sind, im Sommer Speiseeis hergestellt wird, damit die teure Kälte nicht entweicht. Im Winter öffnet dort der Hamburger Verfassungsschutz unsere Briefe mit Wasserdampf. Das war das erste Mal, dass sie mir nicht geglaubt hat. Ich dachte, jetzt bröckelt alles, aber die Sache mit den Illuminaten hat sie dann wieder brav geschluckt. Uebel & Gefährlich wird rätselhafterweise mit Ue, aber mit a-Umlaut geschrieben. Ich habe alle vom Personal befragt, was das für eine Bewandtnis habe, aber das wusste keiner. Das ist denen da zum ersten Mal aufgefallen. Ich dachte, es hätte was mit Tina Uebel zu tun, das ist eine Hamburger Autorin und auch Waldorfschülerin – eine absolute Traumfrau: schön, klug, schmutzig redend und trinkfest wie ein Hafenlotse.

Das ist eine schöne Schlussbemerkung, Harry. In acht Jahren reden wir weiter.

Ralf Sotscheck, Jahrgang 1954, ist Irland-Korrespondent der taz.

Harry Rowohlt, Jahrgang 1945, ist Schriftsteller, Kolumnist, Übersetzer, Rezitator und Schauspieler.

Das Buch: Vor acht Jahren erzählte er Ralf Sotscheck „sein Leben von der Wiege bis zur Biege“. Das daraus entstandene Buch „In Schlucken-zwei Spechte“ erscheint diesen Monat in einer erweiterten Neuauflage in der Edition Tiamat und kostet 15 Euro.