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Archiv-Artikel

Heiter bis wolkig

PROVINZNOVELLE Siegfried Lenz gibt in „Landesbühne“ noch einmal eine ganz altmodische Liebeserklärung an die Literatur ab

Wer kennt schon Isenbüttel? Diesen Ort mit Kindergarten, Grund-, Haupt- und Realschule. Aber ohne Gymnasium. Und ohne Gefängnis. Das hat Siegfried Lenz ihm angedichtet. Genau wie das nahe Grünau. Und natürlich ist hier, in der Provinz, die Zeit stehen geblieben. Unversehens findet man sich in einer vordigitalen Gesellschaft wieder. Unversehens hört man von „Fräulein Bromfeld“ und dem „Herrenabend“. Wer dabei Krämpfe kriegt, dürfte an dem schmalen Bändchen kaum Freude haben. Denn diese Attribute gilt es zu akzeptieren, sonst ist des Altmeisters neuer Novelle „Landesbühne“ nichts abzugewinnen.

Das Geschehen dreht sich um zwei Zellengenossen, den Icherzähler Clemens, einen Literaturprofessor, und Hannes, der verurteilt wurde, weil er sich als Polizist ausgegeben und Bußgelder kassiert hat; er ist der eigentliche Held, obendrein Strippenzieher bei einem Fluchtversuch. Dieser gelingt. Wann? Während einer Aufführung des Theaterensembles Landesbühne. Wie? Mit dessen Bus. Warum? Das bleibt ein Mysterium. Jedenfalls schlägt sich eine Gruppe Gefangener nach Grünau durch, das die vermeintlichen Schauspieler mit offenen Armen empfängt. Sie bleiben in dem Nest, es kommt zu Fraternisierung, Folklore und Fußball. Selbst der Gefängnisdirektor schaut öfter vorbei. Nach einem großen Festakt heißt es dann zurück in die Zelle, abermals mit dem Bus des Ensembles.

Damit endet die Posse mit ihren Anekdoten und ihren Seitenhieben, damit beginnt der – überspitzt formuliert – Entwicklungsroman: Als die Landesbühne erneut im Gefängnis auftritt, diesmal mit „Warten auf Godot“, hat Hannes sein Erweckungserlebnis. Statt wie geplant zu fliehen, schmückt er die Zelle mit einem Baum aus der Bühnendekoration, entscheidet sich für die Freundschaft und die literarische Diskussion mit Clemens.

Sicher wäre weniger mehr gewesen. Lenz stopft viel in die Seiten, gerade der axiomatische Beginn verlangt einiges ab. Manches wird nicht zu Ende erzählt, ist zu parabelhaft, manches bleibt unklar, so die Frage, wie viel Zeit überhaupt vergeht.

Diesen Schwächen steht eine unbestreitbare Stärke gegenüber: „Landesbühne“ ist eine Hommage an die Literatur, nicht als postmodernes Vexierspiel, sondern als ganz altmodische Liebeserklärung. Erzählen ist wie ein Trost, „mitunter wie ein Geschenk“, behauptet Clemens. Es ist das, was er macht, was Hannes und ihn verbindet. Und auch Lenz bleibt nichts schuldig: Frei nach den Bremer Stadtmusikanten lässt er die Häftlinge fliehen, denn etwas Besseres als Gefangenschaft finden sie überall, revisorgleich werden sie in Grünau aufgenommen – diesem verkappten Güllen, das nicht auf die alte Dame und wirtschaftliche Blüte hofft, sondern auf kulturellen Glanz. Andere werden anderes finden, darauf kommt es gar nicht an. Entscheidend ist: Hier schreibt ein begeisterter Leser. Dass der 83-Jährige sich dabei auch selbst zitiert (ein Kapitel heißt explizit „Heimatmuseum“) und Grundfragen aus seinem Oeuvre paraphrasiert, ist ihm leicht nachzusehen.

„Landesbühne“ kann und will nicht an die Problematik der großen Romane wie „Deutschstunde“ heranreichen und ist nicht so bissig wie der Schelmenroman „Lehmanns Erzählungen“, lässt den Witz mancher Frühwerke aber aufblitzen. Ein heiteres, warmherziges Werk, nicht mehr, nicht weniger.

CHRISTIANE PÖHLMANN

Siegfried Lenz: „Landesbühne“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2009, 120 Seiten, 17 Euro