: Die Bombe schreckt nicht mehr
Das Interesse an den Erfahrungen Hiroschimas mit der Atombombe lässt nach. Japans Politik und Gesellschaft diskutieren über Atomwaffen für das Land
AUS HIROSCHIMA SVEN HANSEN
Maruya Hiroshi ist ein liebenswürdiger Rentner mit großer Brille. Der 80-Jährige ist wie fast alle Japaner sehr höflich und zurückhaltend. Wenn es aber um den Abwurf der Atombombe auf Hiroschima vor 60 Jahren geht, wird er bei dem Gespräch in einem Café am Rande des Friedensparks der Stadt schnell sehr deutlich: „Mit dieser Bombe haben die USA aufgehört, Botschafter der Gerechtigkeit zu sein, wie das später auch ihre Kriege in Vietnam und im Irak zeigten.“
Die Atombombe hat Hiroshis Leben geprägt – als Strahlenopfer, als Arzt, der sich für andere Opfer einsetzte, als Schriftsteller, der in Gedichten das nukleare Inferno verarbeitet, und als bis heute kämpfender Friedensaktivist. Hiroshi war am 6. August 1945 nicht in Hiroschima, sondern im 50 Kilometer südwestlich gelegenen Iwakuni: „Selbst dort konnten wir die Explosion der Bombe hören und den Blitz der Explosion sehen.“ Am 8. August fuhr der damals 20-jährige Medizinstudent früh mit dem Zug nach Hiroschima, um seine vermisste Freundin zu suchen.
„Als ich am Bahnhof Koi ankam, der zwei Kilometer vom Ground Zero [Punkt auf der Erdoberfläche, über dem die Atombombe explodierte. Anm. d. Red.] entfernt lag, brannte die Stadt noch. Ich hörte merkwürdige Geräusche und sah einen Mann auf der Straße liegen. Er sagte nichts, sein Herz schlug, aus seinem Körper lief laut blubberndes Blut. Ich sah, wie eine goldene Fliege aus seinem Blut auftauchte, sich das Blut abschüttelte und wieder hineinkroch. Dieser Anblick verfolgt mich bis heute.“
Hiroshi suchte erfolglos im Zentrum und dann im Süden. „Die Brücken waren zerstört, Stahlträger geschmolzen, Straßenbahnen lagen ausgebrannt auf der Seite, überall waren Leichen. Es gab Leute, die Angehörige suchten. Von zahllosen Menschen wusste man nicht, ob sie noch lebten oder schon tot waren.“ Radioaktive Strahlung und ihre Gefahr kannte Hiroshi nicht.
1948 begann er Blut zu spucken und musste wegen der Strahlenkrankheit vier Jahre in ein Sanatorium. Er gehört zur zweiten Kategorie der Hibakusha, wie Strahlenopfer in Japan genannt werden. Zur ersten Kategorie zählen die im Radius von zwei Kilometern von der Bombe Betroffenen. Von ihnen lebt niemand mehr. Kategorie zwei sind diejenigen, die bis drei Wochen nach der Explosion in der Stadt Radioaktivität ausgesetzt waren.
Als er 1954 Arzt in einem Tokioter Krankenhaus wurde, traf er einen verzweifelten Patienten. Der Mann drohte, sich mit seiner Frau umzubringen, weil ihnen niemand helfen konnte. Hiroshi fand den Zusammenhang der Krankheit mit der Atombombe heraus. Bis zum Ende der Besatzungszeit 1952 hatten die US-Behörden wichtige Strahlungsdaten unter Verschluss gehalten, was die Behandlung der Opfer erschwerte. Hiroshi begann, Hibakusha zu organisieren. 1977 wurde er Leiter eines Hospitals in Hiroschima, wo er sich seitdem für Hibakusha einsetzte.
„Leider gaben die Atombomben auf Hiroschima und Nagasaki den Japanern die Möglichkeit, sich selbst in erster Linie als Opfer zu fühlen und ihre eigene Schuld klein zu reden“, sagt Hiroshi. „Bis heute ist es Japan nicht gelungen, seine eigenen Verbrechen in China, Korea und Südostasien zu verarbeiten.“
Ein Beispiel für den Umgang mit der Geschichte in Japan ist das Friedensmuseum in Hiroschimas Friedenspark. Beim Ground Zero wurde die Stadt im Delta des Ota-Flusses mit heute 1,1 Millionen Einwohnern nicht wieder aufgebaut, sondern der Park errichtet. Hier wird jedes Jahr am 6. August der Opfer gedacht und vom Bürgermeister die Abschaffung aller Atomwaffen gefordert. Am Rand des Parks mahnt der so genannte Atombombendom, die Ruine eines einst massiven Kuppelbaus.
Neben dem Dom und Denkmälern im Park ist das 1955 gegründete Museum zentraler Ort des Erinnerns. Die Ausstellung wurde immer wieder überarbeitet. Begann sie früher direkt mit dem Abwurf der Bombe, erklärt sie heute zum Teil auch die Vorgeschichte. Schautafeln zeigen, dass die Stadt ein wichtiger Marinehafen war. Auch das von japanischen Truppen in China begangene Nanking-Massaker von 1937 wird erwähnt. Im Vergleich zu anderen Museen in Japan, die meist sehr selektiv und revisionistisch sind, zählt das Friedensmuseum zu den besseren. Doch werden wichtige Hintergründe kaum und manche japanische Verbrechen wie etwa die der berüchtigten Biowaffeneinheit 731 nicht erwähnt. Dies betrifft auch Kontroversen, die sich aus dem Umgang mit der Atombombe selbst ergaben, wie der Kampf der Hibakusha um Anerkennung oder die umstrittene „Enola Gay“-Ausstellung in den USA 1995 (siehe Interview nächste Seite).
In diesem städtischen Museum gehe es um Hiroschima vor und nach dem Krieg, und nicht um nationale Fragen, sagt Museumskuratorin Michie Aizawa. Sie klagt: „Das Interesse an Hiroschima in Japan nimmt ab.“ Die Zahl der Museumsbesucher gehe nach dem Rekord 1989 mit 1,575 Millionen ständig zurück auf zuletzt noch 1,1 Millionen, darunter nur noch 312.000 Schüler.
Das Museum zeigt auch Kleidungsstücke oder Spielsachen von Schülern, die beim Arbeitseinsatz von der Atombombe getroffen oder auf andere Art ihr Opfer wurden. „Schüler verstehen, dass die Exponate nicht irgendwelche Objekte sind, sondern einem Opfer gehörten“, sagt Aizawa. „Wir wollen vermitteln, dass die Atombombe nicht nur Geschichte ist, sondern eine anhaltende Bedrohung.“ Ziel des Museums sei, die Verwerflichkeit von Atomwaffen zu zeigen und nicht, andere zu kritisieren. Der dargestellte Massenmord unschuldiger Kinder durch die perfide Waffe macht betroffen. Doch zum Verständnis der Vorgänge und der Einordnung damit zusammenhängender heutiger Kontroversen bräuchte es eine umfassendere und kritischere Auseinandersetzung.
Heute löst es in Japan, dem bisher einzigen von Atombomben getroffenen Land, keine Empörung mehr aus, wenn konservative Politiker Atomwaffen fordern. „Eine wachsende Zahl Menschen denkt, dass sich Japan auf einen Konflikt mit Nordkorea oder China vorbereiten muss – womöglich mit Atomwaffen“, sagt der Präsident des Friedensinstituts der Stadt Hiroschima, Motofumi Asai. Zwar sei eine Atombewaffnung Japans längst noch nicht mehrheitsfähig und auch die USA wären aus strategischen Gründen sicher dagegen. Aber wenn – wie erwartet – im Rahmen der zurzeit diskutierten Verfassungsreform der nach dem Krieg von den USA ins Grundgesetz geschriebene Paragraph 9 geändert werde, der reguläre Streitkräfte und deren Einsatz im Ausland verbiete, stehe anschließend die Atomwaffenfrage auf der Tagesordnung. „Japans Rechte mögen die USA von früher nicht, weil sie uns die pazifistische Verfassung aufzwang. Und Japans Linke mögen die heutige USA nicht, die uns drängt, dem Pazifismus abzuschwören.“
Der Exdiplomat Asai kritisiert an Japans Antiatomwaffenbewegung, dass sie die Verbindung mit der Verfassung nicht klar sehe und sich zu wenig für den Paragrafen 9 einsetze. „Viele Japaner sind gegen Atomwaffen, aber zugleich für ein enges Bündnis mit den USA.“ Die fordern von Tokio heute ein weltweites militärisches Engagement an ihrer Seite, weshalb Tokio unter Verbiegung der Verfassung schon Soldaten in den Irak schickte.
Asai fürchtet, dass es am 60. Jahrestag viele salbungsvolle Worte mit wenig Substanz gibt. Der alte Arzt, Dichter und Aktivist Hiroshi räumt ein, Japans Friedensbewegung sei schwächer geworden. Die Enttabuisierung der Atomwaffenfrage erklärt er mit Berichten der Massenmedien und damit, dass der Einfluss der Konservativen im Bildungssystem gewachsen sei. Deshalb sei es wichtig, dass die letzten überlebenden Hibakusha wie er immer wieder ihre Erfahrungen berichteten.