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Handeln, ehe es zu spät ist

Wat mutt? Dat mutt! (2) In unserer Serie zwischen den Jahren verraten AkteurInnen der Zivilgesellschaft, was 2020 wichtig wird. Heute: Bertold Reetz, Ambulante Suchthilfe

Das Problem Sucht ist längst mitten in der Gesellschaft angekommen Foto: David-Wolfgang Ebene/dpa

Von Bertold Reetz

Bremen ist eine schöne, weltoffene und tolerante Stadt mit großer Tradition. Bremen ist aber finanziell gesehen ein armes Bundesland und es gibt in den gesundheits- und sozialpolitischen Bereichen wenig Spielraum. Es scheint so, dass Haushälter bestimmen, was finanziert und was nicht finanziert werden kann.

Im Sucht- und Drogenhilfebereich ist in den letzten Jahren nicht viel passiert. Natürlich, weil keine Gelder für diese Bereiche vorhanden waren. Das Ergebnis ist, dass nun aufwendig nachgebessert werden muss. Die Politik hat die Not der Menschen mit Drogen- oder Suchtmittelabhängigkeit im Prinzip wenig gekümmert. Sie hatten ja ihre versteckten Plätze und Nischen in der Stadt, um unauffällig ihre Drogen konsumieren zu können.

Nun wird es immer enger in der Stadt und die Not immer sichtbarer. Der Senat hat jetzt entschieden, einen Drogenkonsumraum zu schaffen. Das ist gut so, aber dabei darf es nicht bleiben! Als Gesellschaft sind wir dazu verpflichtet, einen Weg aus dieser Krankheit aufzuzeigen. Elendsverwaltung wird es immer geben müssen, aber sie kann doch nicht allen Ernstes die große Vision einer guten Gesundheits- oder Sozialpolitik sein.

Wir müssen immer den in Not geratenen Menschen einen Ausweg aus ihrer Krise zeigen und ihnen dabei mit Rat und Tat zur Seite stehen können. Das Verhindern von Suchtmittelabhängigkeit durch Aufklärung in Schulen und eine zeitnahe Beratungsmöglichkeit durch Beratungsstellen wäre eine effizientere Vorgehensweise und eine menschlichere obendrein.

Seit 2005 wurden die finanziellen Mittel bei der Ambulanten Suchthilfe Bremen gGmbH um 30 Prozent reduziert. Mittlerweile haben wir jedoch seit Übernahme der Drogenhilfezentren einen Stellenabbau von insgesamt vier Vollzeitstellen zu verzeichnen, der teilweise durch Nichtbesetzung und teilweise durch Stundenreduktion zustande gekommen ist. Diese Entwicklung erfüllt uns mit Sorge, da ein kontinuierlicher Schrumpfungsprozess einsetzt, wenn der Haushalt gedeckelt bleibt.

Wir werden im Jahr 2020 Beratungszeiten reduzieren müssen, da wir das Personal nicht mehr zur Verfügung haben werden. Ebenfalls im kommenden Jahr sind Tarifsteigerungen von über zwei Prozent geplant, sodass wir Stellenanteile streichen müssen, denn eine Deckelung der Zuwendungen bei gleichzeitiger Tariferhöhung der Lohnkosten kommt einer Kürzung gleich. Es ist nicht nachvollziehbar, dass bei steigendem Bedarf an Beratung und Hilfen gekürzt werden wird.

Wie wollen wir die Entkriminalisierung der Cannabiskonsumenten als Beratungsstelle begleiten? Wie wollen wir eine fachliche Diskussion anstoßen, wenn es um den Kokain-Konsum in allen Gesellschaftsschichten geht? Wir wundern uns, wenn wir in der Zeitung lesen, dass bei einem hohen Prozentsatz der kontrollierten Autofahrer Kokain nachgewiesen werden konnte. Hierbei handelt es sich nicht um den Drogenabhängigen am Bahnhofsvorplatz: Der fährt kein Auto – das kann er nicht bezahlen.

Foto: S. Schnase

Bertold Reetz, 65, ist Diplom-Heilpädagoge und Geschäftsführer der Ambulanten Suchthilfe Bremen.

Wenn bei 43 von 700 kontrollierten Autofahrern Drogen im Blut getestet wurden, dann benötigt es nicht viel Phantasie, um zu erahnen, wie notwendig es ist, das Thema Sucht wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Sucht ist schon lange in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Sie betrifft ganze Familien – Kinder, Partner, Arbeitgeber, Nachbarn und Freunde. Wir sind froh und begrüßen den Willen der Gesundheitsbehörde, zukünftig wieder die Stellen zu besetzen, die seit vielen Jahren vakant sind. Wir erhoffen uns als Beratungsstelle eine Weiterentwicklung im Bereich Suchtprävention und Suchtbehandlung.

Viele Bremer Bürger sind sozial abgehängt, erreichen keine oder unzureichende Bildungsabschlüsse und verfügen über eine schlechte berufliche Perspektive – ein idealer Nährboden für Entwicklungen abweichender Karrieren und für die Entstehung von Drogenkonsum und Suchtmittelabhängigkeit. Mittlerweile gibt es die Versuche der Politik, mit spezifischen Konzepten die Probleme am Hauptbahnhof oder auch in den Stadtteilen wie Gröpelingen in den Griff zu bekommen. Wie immer werden die Probleme erst dann behandelt, wenn sie da sind oder wenn es zu spät ist. Dann werden Gelder im Haushalt „zusammengekratzt“, um eine Lösung zu ermöglichen. Wir müssen in Bremen wieder dahin kommen, dass fachliche Argumente die gleiche Gewichtung bekommen wie die Argumente der Behörden-Haushälter.

Wir werden nicht aufgeben, für eine gut ausgestattete Suchtberatungsstelle zu kämpfen. Wir sind es den vielen suchtkranken Menschen in Bremen schuldig! Und: Beklagen wir uns nicht über die vielen Suchtkranken, wenn wir nicht dafür Sorge tragen, dass es gar nicht erst so weit kommt!

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