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Vom Urknall bis zum Großhirn

Die Welt als Datenstrom: Für seine erste eigene Ausstellung lädt Wolfsburgs neuer Kunstmuseum-Direktor Andreas Beitin den japanischen Sound- und Medienkünstler Ryoji Ikeda ein. Der präsentiert zwei überwältigende Visualisierungen binärer Informationen

Von Bettina Maria Brosowsky

Nur eine Handvoll Monate Zeit hatte Andreas Beitin, seit April dieses Jahres Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg, um seine erste eigene Ausstellung auf die Beine zu stellen. Zur Erinnerung: Weihnachten 2018 überraschte der spektakuläre Rauswurf des vorherigen Direktors, dessen kuratorische Systemkritik der Volkswagen AG, einem wichtigen Geldgeber des Hauses, missfiel. Zwar kann Andreas Beitin auf dessen gute Vorarbeiten aufbauen, die bis weit ins kommende Jahr reichen, aber für Ende 2019 ergab sich aufgrund einer verschobenen Themenschau eben doch ein Vakuum.

Sicher auch, um mit einer unverwechselbar eigenen Handschrift zu starten, holte Beitin nun den japanischen Sound- und Medienkünstler Ryoji Ikeda nach Wolfsburg. Dessen zwei monumentale, audiovisuelle „Daten-Symphonien“ feiern hier zugleich deutsche Premiere. Derartig technikgestützte Kunst möchte Beitin verstärkt im Hause zeigen, neben einer professionellen Vorliebe auch eine Referenz an die durch Forschung, Wissenschaft und Technologie geprägte Region.

Beitin und Ikeda kennen und vertrauen sich seit vielen Jahren, eine Voraussetzung, die den publikumsscheuen Japaner zu der kurzfristig anberaumten Präsentation bewegte. In einer früheren Wirkungsstätte Beitins, dem Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien (ZKM), waren bereits 2015 zwei Realisate von Ikeda zu sehen, „the planck universe [micro]“ und „the planck universe [macro]“, die ähnlich den beiden nun in Wolfsburg gezeigten multimedialen Großinstallationen „data-verse 1“ und „data-verse 2“ durch den Dialog des Künstlers mit Forscher*innen verschiedenster naturwissenschaftlicher Disziplinen generiert wurden.

Für die neuen Arbeiten, zwei Teile einer anvisierten Trilogie, lieferten so unterschiedliche Quellen wie das Cern, die Europäische Organisation für Kernforschung nahe Genf, das weltweit größte Labor für Teilchenphysik, in dem der Aufbau der Materie erforscht wird, die Nasa oder auch Codes aus dem Humangenomprojekt zur Entschlüsselung der menschlichen DNA die Daten. Hinzu kommt teils frei verfügbares Material, etwa zu weltweiten Flugbewegungen, Lichtemissionen der Metropolen, Schaltschemata von Platinen und ähnlichem.

Diese Daten, allesamt Binärcodes, die in direkter Übersetzung nur grauenvolle Klang- und Bildmassen ergeben würden, transformiert Ikeda in hoch ästhetische und schnell getaktete, perfekt miteinander synchronisierte Bewegtbildsequenzen. Anschließend unterlegt er diese optischen Choreografien mit elektronischen Sounds aus minimalistischem Reservoir. Rhythmische Sinustöne, die an Sonargeräte, Echolote oder auch Apparate der Intensivmedizin erinnern mögen, sorgen für eine technisch nüchterne Atmosphäre. White Noise, ein undefinierbares Dauerrauschen, oder auch kräftigere Impulse entfalten durchaus körperlich erfahrbare Reaktionen bei den Betrachter*innen.

Dominant aber sind die visuell zu verarbeitenden Bildfolgen der 12-minütigen Loops, die auf 16 mal 10 Meter großen Projektionswänden mittels Hochleistungsbeamern realisiert werden. Es braucht wohl mehrere Durchläufe, um wieder Herr der eigenen Sinne zu werden, sich nicht dem Bild- und Soundrausch zu ergeben.

Bei „Data-verse“, der Titel deutet es bereits an, geht es um so etwas wie eine Phänomenologie des Universums, von der kleinsten physikalisch bekannten Einheit bis zur Unendlichkeit dessen, was wir als Weltall bezeichnen. Unsere eigene Existenz wird so auf ein höheres Niveau der Unerklärbarkeit und damit Bedeutungslosigkeit gehoben, das alte christliche Bildverbot des gottgleichen Blickes von oben auf die Welt durch multiple Perspektiven vom molekularen bis galaktischen Maßstab final infrage negiert.

Dieser Ermächtigung folgend werden nach dem optisch eindrucksvollen Urknall nun Zellteilungen mit Datenströmen in Schaltkreisen parallelisiert, anschließend der menschliche Körper in Statur und seine Komponenten wie Skelett, Blutbahnen und Organen dreidimensional erfasst. Besonderes Interesse gilt seinem Gehirn: Rotierend, datentechnisch seziert und farblich markiert lassen sich Funktionseinheiten wie rechte und linke Hemisphäre, Hypothalamus, Frontal­lappen, Kleinhirn, Großhirn präsentieren, Bildergebnisse wie aus der Magnetresonanz­tomografie.

Ein folgender Dimensionssprung widmet sich der anthropozentrischen Sphäre, etwa den vom Menschen gemachten Städten, die sich ähnlich einer Zellteilung in rasanter Schnelle vermehren. Überformte Kontinente, Oberflächen von Erde oder auch Mond scheinen auf, bis sich zum Abschluss alles in glühender Materie, wohl der Sonne, verliert.

Ryoji Ikeda, 1966 im japanischen Gifu geboren, in Paris und Kyoto ansässig, gab schließlich doch ein paar Worte zu Arbeit und Intention preis. Dabei stapelte er für einen Künstler, dessen Werk gerade weltweit von Museen und Kunstschauen gefeiert werden, extrem tief. Er habe nie irgendetwas gelernt, sagte er, fand seine künstlerische Ini­tiation als DJ in der Klubszene der 1990er-Jahre und sieht sich als Komponist. Er schätzt die Freiheit, ohne die akademische Kategorisierung künstlerisch genau definierter Sparten zu arbeiten, und als adäquates, kunsthistorisch nicht vorbelastete Medien folglich die Daten, den Binärcode, die Pixel des Lichts.

Warum sollte die Kunst denn von dieser omnipräsenten Sprache getrennt werden? Jede*r Rezipient*in möge sich also ein eigenes Urteil über seine Arbeit machen, die Werke sprechen für sich. Und an die Journalist*innen gewandt: Schreibt darüber, was ihr wollt!

Ryoji Ikeda: „data-verse“: bis 29. 3. 20, Wolfsburg, Kunstmuseum

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