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Von Wiederkäuern und Blasen

Zwischen Rave und Body Work, zwischen Kontaktimprovisation und träumerischer Selbsterkundung: Juli Reinartz inszeniert im Theater Thikwa ihr Tanzstück „Aftershow“. Auch der Schalk kommt dabei nicht zu kurz

Von Astrid Kaminski

Irgendwie scheint das Kaugummiding in der Tanzperformancewelt losgegangen zu sein. Als Symptom oder als Metapher? Das ist hier die Frage. Kaugummikauen während des Tanzens ist supergefährlich. Als Symptom stünde es daher für eine mindestens mäßig suizidale Phase. Als Metapher dagegen könnte der Wiederkäuereffekt vielleicht für ein Work-in-Progress stehen, für alles, was noch nicht durch vier Mägen gegangen ist. In Kombination aus Symptom und Metapher ergibt sich allerdings ein Dilemma. Denn wer den Kaugummitod stirbt, wird nie ein glücklicher Wiederkäuer.

Ständig wird zurzeit gekaut. So auch bei Juli Reinartz. Schon in ihrem „Tanzabend 4“ für ein Performer*innenteam des Theater Thikwa. Nun folgt mit „Aftershow“ die Fortsetzung. Allerdings gibt es zwischenzeitlich einen physiologischen Einsatz jenseits von Kaumuskelbetätigung für das Gummi: Die Zahnlücke von Performerin Tiana Hemlock-Yensen muss gestopft werden. Also wird tüchtig Zahnersatz produziert. Mit aufblasbarem Fallschirm. Gut so, denn auch ein Zahn will, sollte er sich einmal aus dem Mund stürzen, weich fallen.

Weich sind auch die Bewegungen des achtköpfigen Teams, das aus sechs Thikwa-Per­former*innen, Hemlock-Yensen und Reinartz selbst besteht. Weich und ganz bei sich, manchmal vor lauter In-der-eigenen-Blase-Sein fast ein wenig unterspannt. Das sind keine Körper, die vor Verlangen fast platzen. Eher welche, die knapp an einer Überdosis Yoga vorbeischrammen. Was nicht unbedingt typisch für Thikwa-Performer*innen ist, aber durch die seit 2015 eingeführten Tanzabende immer typischer wird. Tanz ist hier eine recht meditative Angelegenheit zwischen langsamem Rave und Body Work, zwischen Vertrauensaufbau durch Kontaktimprovisation und träumerischer Selbsterkundung. Aber nicht ohne Schalk. Wobei Thikwa ohne Schalk nicht Thikwa wäre. Immerhin haben sie sich seit 28 Jahren damit jung gehalten und aktuell den besten Martin-Clausen-Slapstick der Welt drauf.

Ein Schalk ist in „Aftershow“ vor allem Konstantin Langenick. Reinartz und er haben sich als Dreamteam gefunden. Schon bei diversen Tanz-Szeneveranstaltungen sind sie in der Partymenge aufgefallen, und unter Reinartz’ choreografischem Zugriff strahlt der Performer wie ein Adonis unter der Sonne des siebentorigen Theben. In Shorts und Bustier, über den er später noch einen nicht unversehrt bleibenden Brauseperlen-Bikini trägt, gibt er das Go-go-Girl. Und auch seine Nonsens-Aufgabe an die Gruppe ist die schalkhafteste des Abends. Jede*r soll mit der jeweils höchsten eigenen Stimme Britney Spears’ „Baby one more time“ singen. Es fiepst, es jault, es werden Stimmbänder ausgeleiert: „Hit me, baby, one more time“

In höchster Tonlage wird Britney Spears’ „Baby one more time“ angestimmt

Andere Aufgaben, die verteilt werden, sind nicht ganz so große Hits. Manche auch nicht ganz verständlich, weil sie dezentral in Parallelaktionen angekündigt werden. Es geht um Ruhe auf dem Neptun oder Zitronenwasser und das Gefühl, wenn es in den Mund gekippt wird. Oder auch um eine Art rhythmische Sportgymnastik mit Schal und anderen Kleidungsstücken zum Hip-House-Ohrwurm „Alors On Danse“ vom belgischen Rapper Stromae. Aber nicht alles, was nett ist, muss ein Hit sein, nicht alles muss wehtun. Von daher stopfe ich mir die Ohren gern ein einziges Mal zu.

Ansonsten kommen die Ohren mindestens bei jeder zweiten Nummer von „Aftershow“ auf ihre Kosten. Die Clubbing-Elektromusik stammt von Patrick Patsy Lassbo, eine Schweden-Szene-Connection von Reinartz, die zwischen Stockholm und Berlin zu Hause ist und vergangenes Jahr auch zwischen Greifswald und Helsinki unterwegs war – und thematisch zwischen kollektivem Identitätsabbau, einer Befragung politischen und gesellschaftlichen Ökosüppchenkochens und Doktorarbeit. Und natürlich der „Aftershow“-Programmzettel-Frage schlechthin: Was tun mit Leuten, die sich – als erklärte Arbeitshypothese – „noch nicht einmal sicher sind, dass sie sich im selben Raum befinden“?

Sie in ihrer Blase lassen. Und wenn sie wieder rauskommen: Kartenhäuser aus Körpern bauen. Adonis gibt derweil einen Sumōringer, der eine Arabesque an einem Schubkarren schiebt, andere werden auf Körperbetten durchgeshakt oder träumen darauf. Um die etwas schulische Nummerndramaturgie und das Raum-Zeit-Kontinuum zu sprengen, müsste „Aftershow“ zwar noch durch ein paar Mägen gehen – was den Performer*innen mit Reinartz aber gelingt wie Antigone, die ihre Schaufel vergisst: Sie sind in einer Welt, in der alle um ihren Platz kämpfen, niemandem Rechenschaft schuldig, sie kauen sich durch und machen ihr Ding, ohne große Behauptungsgesten.

Wieder am 18 –21. 12. jeweils 20 Uhr, Fidicinstraße 40

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