taz-adventskalender: So viel verlebtes Leben
Christiane F./ Kai Hermann/ Horst Rieck: „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, Carlsen Verlag, Hamburg 2017, 368 S., 9,99 Euro
Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ las ich bestimmt fünf oder sechs Mal in Jugendjahren. Aus diesem Buch hat sich mein erstes Bild von Berlin, einer Stadt, die ich damals noch nicht kannte, zusammengesetzt. Das Sound, das Big Eden, die Deutschlandhalle. Die Gropiusstadt, die Potsdamer Straße, die Hasenheide. Die Verrückten, die Zugedröhnten, die Abgedrehten, die da rumliefen; das Zeug, das die Jugendlichen vertickten und nahmen, H, LSD, Shit, Valium, Valeron, Captagon, Ephedrin.
So viel gelebtes, erlebtes, verlebtes Leben. Damals machte diese Szene irren Eindruck auf mich. „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ (1978) erzählt – man muss das kaum noch einmal erwähnen – die wahre Geschichte von Christiane Felscherinow, die mit 13 in die Drogenszene abrutscht und später auf den Kinderstrich geht, um ihre Sucht zu finanzieren. Es ist aber auch die Geschichte einer tiefen Freundschaft zu ihrem Jugendfreund Detlef.
Als Buch über Einsamkeit und Sehnsucht, als Coming-Of-Age-Buch, als Drogenbuch hat es für mich bis heute Bestand. Der Taumel der Teenagerjahre, der Sog, den die Popmusik in diesem Alter erzeugt, das Sich-Ausknocken mit Drogen, all das ist in dem Buch, und all das erlebt jede junge Generation (oder besser: erleben Teile jeder jungen Generation) aufs Neue, wenn auch, wie zu hoffen ist, nicht mit all den Folgen.
Eigentlich ist es ein Zustand des Nicht-richtig-in-der-Welt-Seins, der in „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ beschrieben wird. Zum Beispiel, als Christiane das Bowie-Konzert in der Deutschlandhalle besucht: „Als David Bowie anfing, da war es beinah so geil, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es war wahnsinnig. Als er dann aber zu dem Stück kam ‚It’s too late‘, es ist zu spät, kam ich mit einem Schlag runter. Ich war mit einem Mal ganz blöde drauf. Schon in den letzten Wochen, als ich nicht mehr wußte, wozu und wohin, war mir dieses ‚It’s too late‘ an den Nerv gegangen. (…) Ich dachte, daß der Song genau meine Situation beschrieb.“ Es ist auch diese unvermittelte, ‚unschuldige‘ Sprache, die Christiane benutzt, die einem ihre Geschichte so nah gehen lässt und die die Autoren seinerzeit glücklicherweise im Text so belassen haben.
Beeindruckend auch die Schilderungen der Freundschaft zwischen Christiane und Detlef. Bis auch Detlef sie hängen lässt, ausgerechnet, als sie gerade rückfällig geworden ist: „Die alte Scheiße fing wieder an. Freier, Druck, Freier, Druck. Dann erfuhr ich, dass Detlef mit Bernd nach Paris gegangen war. Da flippte ich aus.“
Natürlich überwiegen in „Christiane F.“ die Schilderungen von Elend und Gewalt, die, wie zu befürchten ist, für die Kinderprostitution noch heute gelten. Aber in Christiane F. steckt auch eine zeitlose Outsidererzählung, eine Geschichte der Selbstbehauptung, des Kämpfens, des Muts und auch der Schönheit. Jens Uthoff
Berlin-Faktor: Westberlin-Faktor 100 Prozent, Ostberlin-Faktor 0 Prozent
Taugt als Weihnachtsgeschenk für: Niemanden. Sorry.
Kunden, die das kauften, kauften auch: Stefan Aust: „Der Pirat“, Benjamin von Stuckrad-Barre: „Panikherz“, Lydia Lunch: „Paradoxie. Tagebuch eines Raubtiers“
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