Ausgehen und rumstehen von Marie Serah Ebcinoglu: Wenn niemand weiß, welcher Wochentag gerade ist
Über Weihnachten sickert in Berlin die Einsamkeit durch die Straßen. Das liegt wohl daran, dass die meisten aus meinem Kiez auch zugezogen sind und nun alle nach Hause gefahren sind.
Meine WG ist leer, alle meine Freunde sind verreist und ich verbringe meine Zeit damit, bei meinen ebenfalls zugezogenen Eltern abwechselnd auf der Couch und auf dem Teppich zu liegen. Meine Bildschirmzeit hat sich über die Weihnachtstage um 160 Prozent gesteigert, ich habe alle Instagram-Filter ausprobiert und getestet, welcher Harry-Potter-Charakter ich wäre. Als mir Instagram nun auch noch dazu gratuliert hat, dass ich alle Beiträge der vergangenen Tage gesehen habe, breche ich auf ins Museum. Es ist immer die beste Zeit, um ins Museum zu gehen, denn kaum jemand wird da sein. Wo man sich sonst vor Menschenmassen nicht retten kann, drückt in den Straßen die Stille ein bisschen auf die Brust, aber so, als ob man nach langer Zeit endlich mal wieder ausgeschlafen hat, noch etwas benommen ist und alles nach Kaffee riecht.
Niemand weiß zwischen den Jahren, welcher Wochentag gerade ist. Mit Einwegbecher in der Hand und auf dem Weg zu kulturellem Mehrwert fühle ich mich wieder etwas menschlicher (und, wie Oma, auch wie eine Umweltsau).
Seit Anfang Dezember schon will ich die Ausstellung „Love, Ren Hang“ im c/o Berlin sehen. Eine Retrospektive des gefeierten chinesischen Fotografen Ren Hang, der sich vor knapp drei Jahren, mit 29 Jahren, das Leben nahm. Seine Fotografien werden von Ausschnitten seiner Lyrik begleitet, die sich mit dem Namen der Ausstellung zu einem Abschied verbinden. In dem Online-Tagebuch „My Depression“, das Ren Hang auf seiner Website geführt hatte, schrieb er: „(E)s ist nie so, wie du es dir wünschst. Genau, wie wenn du rauchen willst, aber keine Zigarette hast. Wenn du dann endlich eine Zigarette hast, dann fehlt dir das Feuerzeug. Hast du dir schließlich Feuer besorgt, funktioniert es nicht. Und wenn am Ende eine Flamme herauskommt, dann willst du nicht mehr rauchen.“
Seine Fotografien sind fast schon erotische Körperstudien. Skurril, provokant und doch in sich ruhend. Die Komposition der Körper, die immer im Fokus des Bildes steht, in der Natur, mit Tieren und mit sich selbst, ist mal wunderschön, mal so komisch, dass ich lachen muss, und mal so grenzüberschreitend, dass mir beim Anblick etwas flau im Magen wird. Der aus einer genderqueeren Perspektive dargestellte Körpertyp ist eigentlich immer der gleiche. Es wirkt, als hätten die Körper gerade erst festgestellt, dass sie über ihre eigene Hülle verfügen können und nun ihre gewonnene Freiheit austesten.
Die glänzende Ästhetik der Fotografien – alle analog und mit Blitz geschossen – stehen eigentlich im Kontrast zum Dargestellten. Nacktheit, Tod, Verletzlichkeit stehen krass im Fokus. In seiner Heimat China wurde Ren Hangs Kunst immer wieder zensiert, Ausstellungen wurden abgesagt, Fotoshootings abgebrochen und seine Webseite gelöscht. Er habe seine Heimat dennoch nie verlassen wollen, hört man ihn in einem Video der Ausstellung sagen: „The censorship makes me want to stay even more“.
Ich bin froh, dass ich die Ausstellung fast für mich allein habe. Überhaupt bewegt man sich freier dieser Tage in Berlin. Auf dem Rückweg frage ich mich, ob Ren Hang wohl auch etwas über Feiertage geschrieben hat. Etwas später scrolle ich durch seinen Instagram-Account. Der letzte Post ist seine Todesanzeige – veröffentlicht zwei Wochen nach seinem Suizid.
Die Zeit nach den Weihnachtstagen steht im krassen Kontrast zu der Leere Berlins zuvor. Seit diesem Wochenende füllt sich die Stadt stündlich, alle kommen zurück und an Silvester wird es dreimal so voll sein wie sonst, auch in meiner WG. Jetzt können wir zusammen auf dem Teppich liegen, bis das normale Leben wieder anfängt und Wochentage wieder relevant werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen