berliner szenen
: Lieber Sätze statt Vorsätze

Es ist Silvester, ich bin auf einer Feier und kenne niemanden, außer V., die Gastgeberin. Ich brauche frische Luft und hole meinen Mantel.

Auf dem Balkon steht einer, den ich auch nicht kenne. Wir grüßen uns. Es riecht nach Schwefel. Gelbe Schwaden ziehen vorbei. Der Typ bläst den Rauch seiner Zigarette über den Kreuzberger Hof in den bunten Nachthimmel. Lichter platzen, es knallt und pfeift. Das gefällt mir.

Wir sehen uns an und wissen nicht, was wir sagen sollen, also lehnen wir uns auf die Brüstung und schauen nach unten in den Hof. Von hier oben sieht die Sandkiste aus wie ein Geburtstagskuchen, die bunten Plastikspielzeuge darin wie Smarties. Aus einem Fenster werfen zwei Jungs Böller vor die Mülltonnen. „Hast du Vorsätze für das neue Jahr?“, fragt er da plötzlich.„Eher Sätze als Vorsätze“, sage ich, bin aber zu faul, es zu erklären. Er drückt die Zigarette in einen Blumentopf: „Ist eigentlich auch besser. Vorsätze bringen sowieso nichts.“ Ich freue mich. „Und du?“, frage ich dann. „Ich nehme mir jetzt Sätze vor statt Vorsätze.“

Ich muss lächeln, er auch. Wir sehen uns an und verstehen uns. Es ist ein Moment der Ruhe. Als würden wir uns aus der Sandkiste kennen, hätten die größte Burg der Welt gebaut und viel später Böller an die Mülltonnen geworfen. Eine rote Supernova explodiert über uns.Er schaut auf sein Handy. „Noch 10 Minuten.“ Ich nicke: „Na dann, bis gleich.“ Er lächelt. Dann geht er rein. Ich atme noch ein paar Mal tief über den Hof.

Wieder drinnen, drückt mir V. ein Sektglas in die Hand: „Wo warst du denn bloß?“ „Irgendwie weit weg“, sage ich. Mit dem Glas in der Hand gehe ich durch die Räume. Es ist voll. Ich dränge mich bis in die Küche. 5, 4, 3, 2, 1, rufen sie. Aber ich finde ihn nicht mehr. Den, der sich jetzt Sätze vornimmt. Isobel Markus