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Archiv-Artikel

Wenn Mutter aus der Rolle fällt

Wenn Mütter ihre Kinder töten, wie der Fall in Brandenburg es zeigt, suchen Politik und Psychologie das Undenkbare erträglich zu machen. So wichtig der Gesellschaft diese ritualisierten Deutungen auch sind, so sehr verstellen sie den Blick auf das eigentliche Problem: das Tabu weiblicher Potenz

VON KATHARINA RUTSCHKY

Einmalig in der deutschen Kriminalgeschichte soll er sein, dieser Fall. Sabine H. hat dreizehn Kinder geboren, neun davon unmittelbar nach der Geburt unversorgt sterben lassen oder direkt zu Tode gebracht. Aber auch hier gilt, was schon in anderen schockierenden Einzelfällen zu beobachten ist: Die Deutungen, die jetzt gebraucht werden, um den Schock gesellschaftlich kommensurabel zu machen, folgen Klischees, die sich anderswo bewährt haben oder im Dienst einer ewigen politischen Agenda stehen, die den Einzelfall zum Exemplum stilisiert. Mag einem die liberale Deutung eines Hans-Joachim Maaz nicht nur plausibler, sondern auch um ein vielfaches sympathischer erscheinen als die von Jörg Schönbohm – im Prinzip unterscheiden sie sich nicht.

Bestellte man Maaz zu dem Gutachter, den man jetzt für Sabine H. sucht, um ihre strafrechtliche Verantwortung zu prüfen, würde er nach schweren seelischen Verletzungen und Persönlichkeitsstörungen Ausschau halten, die im Verein mit akuten Belastungen, die Gesunde noch wegstecken, bei einer Angeschlagenen dann aber doch irgendwie zur Logik ihrer Untaten führen: „Da war eine Frau in höchster Not“ (taz-Interview vom 4. August). Die Konsequenz kann nur sein, die Anstrengungen einer Therapiegesellschaft noch einmal zu verdoppeln.

Irritierte Gesellschaft

Jörg Schönbohm zieht im Wahlkampf, wo jetzt eine Linkspartei den sicher geglaubten Sieg von Schwarz-Gelb gefährdet, noch einmal die Register des Kalten Krieges und der Kommunistenfresserei, indem er Sabine H. zur späten Protagonistin einer „proletarisierten“ Gesellschaft macht , die abendländisch-christliche Werte und bürgerliche Tugenden rücksichtslos vernichtet hat. Und ein Vakuum hinterlassen hat, das mit Ordnung wieder gefüllt werden muss. An diese Denkweise kann ein schockiertes Publikum anknüpfen, das von ökonomischen Abstiegsängsten geplagt ist und bei Globalisierung nicht an Menschenrechte, sondern ans heimische Eingemachte denkt, das jetzt den Bach runterzugehen droht. Weil die Gesellschaft in neoliberale Individuen zerfasert, hat die „alte gute“ soziale Kontrolle der Nachbarschaft versagt, jeder denkt nur noch an sich und so weiter und so fort.

Was hat das alles mit Sabine H. zu tun, was mit dem angeblich doch spektakulärsten Einzelfall der jüngsten deutschen Kriminalgeschichte? Ich kennen ihre Geschichte nur aus den Zeitungen und riskiere mit meinen Mutmaßungen, mich gründlich zu irren. Aber bis zum Beweis des Gegenteils behaupte ich, dass Sabine H. die Protagonistin einer Tragödie ist, die weibliche Potenz in aufgeklärten, gleichberechtigten Zeiten entgleisen lassen kann. Hat uns der Feminismus alter Schule mit den Entgleisungen der männlichen Potenz (Pornos, Vergewaltigung, Sexualmorde an Kindern, so genannte Familientragödien, bei denen ein Mann Frau, Kinder und sich selbst auslöscht et cetera) einigermaßen bekannt gemacht, so hat er die weibliche Potenz doch vollständig ausgeblendet. Was können Frauen, die nicht nur Opfer sind, mit ihrer spezifischen Fähigkeit zum Gebären der Kinder anrichten? Sie können, und das beweist der Fall der Sabine H., ihre weibliche Potenz genießen – und die Kinder töten.

Warum fragen sich alle vernünftigen Menschen: Hat Sabine H. denn nicht verhütet, wenn sie in einer unglücklichen Ehe nach drei schnell geborenen Kindern keine weiteren wollte? Oder: Warum hat sie nicht von der Möglichkeit eines regulären Schwangerschaftsabbruchs Gebrauch gemacht ?

Man kennt die weibliche Potenz eben nur als biologisches, im Fall von Kindstötung nur als soziales Schicksal diskriminierter, armer und verzweifelter Mütter. Vor Augen steht uns, realitätswidrig, Fausts unglückliches Gretchen. Der familienpolitische Tenor lautet heute doch: Stimmten die Rahmenbedingungen, würden die Männer endlich mal zupacken und das Ihre in der Reproduktionsarbeit leisten – dann sähe die Geburtenquote doch anders aus!

Das Patriarchat ist zwar zu Ende, aber die weibliche Potenz ist nach dem Ende seiner langen Geschichte noch immer Terra incognita. Die Vorstellung, dass die Mutter, der man sein Leben verdankt, dieses auch hätte verwerfen können, selbst die Idee, dass reale Mütter gefährlich und böse sein können, widerspricht unserem Lebensinteresse mit einer Vehemenz, die Einsichten schwer macht. Entsprechend ratlos reagieren wir auf Mütter, die ihre weibliche Potenz wirklich realisiert haben.

Beim Lesen der Reportagen über Sabine H. fielen mir Geschichten von Frauen ein, die in den vorherrschenden medizinischen oder sozialpsychologischen Diskurs nicht passen und auch nicht passend gemacht werden. Eine Freundin in gesicherter Partnerschaft und guten sozialen Verhältnissen verließ das Krankenhaus und merkte erst zu Hause, dass sie dort ihr Kind vergessen hatte. Eine andere, die sich nie so komplett und glücklich wie in der Schwangerschaft des Wunschkindes gefühlt hatte, entsetzte sich beim Anblick des Neugeborenen und konnte mit dem so genannten „rooming“ in der modernen Geburtsstation gar nicht zurechtkommen. Eine andere fantasierte sich die Geburt eines Kindes als den Orgasmus ihres Lebens …

135.000 Abtreibungen pro Jahr

Auch Feministinnen sollte die hohe Zahl der Schwangerschaftsabbrüche nachdenklich machen. Trotz Aufklärung und Verhütungsmitteln, die auf Plakatwänden witzig popularisiert werden, bleibt die Zahl der gesetzlichen Abbrüche bei etwa 135.000 pro Jahr konstant, viel zu hoch und unbegreiflich. Wie zur Verteidigung einer prekären Errungenschaft wird bei der Statistik aber immer darauf hingewiesen, dass die hart erkämpfte Abtreibungsregelung nicht jungen Ludern, sondern in der Mehrzahl anständigen Frauen zugute kommt, die verheiratet sind und schon mehrere Kinder geboren haben.

Was mich wieder zu Sabine H. zurückführt. Sie war verheiratet, hat dreizehn Kinder ehelich geboren, aber nur vier am Leben gelassen. Die zwischen 1988 und 1999 Geborenen hat sie getötet oder sterben lassen und in Blumenkästen begraben. Erst nach der Trennung vom Ehemann, 2001, bei dem die lebenden Kinder verblieben und mit dem sie später noch ein weiteres Kind bekommen hat, entsorgte sie die neun Toten in besagten Kästen auf dem Grundstück ihrer Eltern.

Sabine H. war eine exzellente Schülerin und lernte einen Beruf. Während sie neunmal schwanger war und tötete, ging sie arbeiten und führte ein unauffälliges Familienleben. Dumm war sie nicht und auch nicht verwahrlost. Die frühe Ehe war kein Erfolg, konnte es aber auch so wenig sein wie die hoffnungslosen Familiengründungen der männlichen Sexualmörder, die eigene Kinder hatten und andere trotzdem zum ratlosen Entsetzen der Öffentlichkeit barbarisch töteten. Ist Sabine H. eine Sexualstraftäterin? In einer Liga etwa mit Ronny Rieken, dem Familienvater mit der Obsession für sadistische Sexualmorde?

Böse Mütter? Undenkbar!

Weibliche Potenz und weibliche Sexualität stellt uns vor Denkaufgaben, denen wir ausweichen, weil wir alle eine mächtige Mutter hatten, auf die zu vertrauen eine anthropologische Notwendigkeit darstellt. Meistens geht es ja auch gut, aber Entgleisungen dieser Macht des Weiblichen wollen wir gerade heute nicht wahrhaben. Wo doch im Zeichen der Gleichberechtigung so viel für die Frauen getan wurde!

Wie auch immer Psychologie oder Politik die Tat deuten: Sabine H. muss irgendwann einmal entdeckt haben, dass der Zustand der Schwangerschaft ihr ein Glücksgefühl der Vollständigkeit und Macht verschaffte, wie es das Leben nie und nimmer zu bieten hätte – auch nicht das Leben eines Neugeborenen, das immer das Leben eines anderen bleibt und von der Mutter auch als solches wahrgenommen wird.

Frauen sind nicht gut. Frauen sind nicht friedlich. Sabine H. ist eine Sexualtäterin. Ein Einzelfall, der Anlass zu Erkundungen der weiblichen Potenz geben sollte. Sie hat auch schwarze Seiten.