: Weiterer Schritt zur Aussöhnung
DIPLOMATIE Ungeachtet scharfer Kritik unterzeichnen Armenien und die Türkei ein historisches Abkommen, das diplomatische Beziehungen und eine Grenzöffnung vorsieht
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
„Friedensprozess gerettet“, titelte gestern das türkische Massenblatt Sabah und feierte damit die historische Vereinbarung, die die Türkei und Armenien am Samstagabend unterzeichneten. Tatsächlich geriet die in der Schweizer Universität in Zürich geplante feierliche Unterzeichnung des Abkommens zwischen den seit Jahrzehnten verfeindeten Nachbarn zu einem veritablen Krimi. Um 17 Uhr sollten die beiden Außenminister Eduard Nalbandian und Ahmet Davutoglu ihre Namen unter die Dokumente setzen. Die Kulisse war bereit, neben der Schweizer Außenministerin Michelin Calmy-Ray hatten sich der EU-Außenbeauftragte Javiar Solana, Frankreichs Bernard Kouchner, der russische Außenminister Sergej Lawrow und Hilary Clinton eingefunden.
Doch wer nicht kam, war Nalbadian. Drei Stunden musste er von der internationalen Diplomatenfront bearbeitet werden, bis er erschien. Der Grund waren angeblich „nicht akzeptable Formulierungen“ in der vom türkischen Außenminister Davutoglu vorbereiteten Rede, die nach der Unterzeichnung gehalten werden sollte. Die Krise wurde gelöst, indem lediglich die Schweizer Gastgeberin ein paar Dankesworte zum Besten gab.
Eigentlicher Grund für das armenische Zögern dürften die Proteste der Opposition in Jerewan und der armenischen Diaspora gewesen sein. Am Freitag hatten in Jerewan rund 10.000 Menschen gegen die Vertragsunterzeichnung demonstriert. Zuvor war Armeniens Präsident Sergej Sarkasian bei einem US-Besuch von Vertretern der Diaspora angegriffen worden.
„Kein Handel mit dem Genozid“, fordert die Opposition. Sie wirft Sarkasian vor, in dem jetzt unterzeichneten Protokoll zugestimmt zu haben, dass eine gemischte Historikerkommission über Art und Ausmaß der Massaker an den Armeniern im ausgehenden Osmanischen Reich diskutieren wird, anstatt darauf zu bestehen, dass die Türkei einen Völkermord an den Armeniern anerkennt. Doch auch die türkischen Nationalisten sind gegen den Vertrag. Mehmet Sandir, Sprecher der rechtsradikalen MHP, nannte es einen „schwarzen Tag“ für die Türkei, weil die Regierung die Freunde in Aserbaidschan verraten hätte.
Die Türkei hatte die Grenze zu Armenien vor 16 Jahren geschlossen, als armenische Truppen die Enklave Berg-Karabach in Aserbaidschan und weitere Gebiete in Aserbaidschan besetzte. Auch Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew verurteilte das Abkommen, weil die Türkei die Öffnung der Grenze nicht an einen armenischen Abzug aus Karabach gekoppelt habe.
Es ist daher nicht sicher, dass der Vertrag von den Parlamenten beider Länder ratifiziert wird. Während die türkische Regierung über eine komfortable Mehrheit verfügt, hofft die armenische Opposition, den Vertrag im Parlament noch kippen zu können, womit wieder alles auf Eis läge. Denn laut Vertrag sollen die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen und die Öffnung der Grenze erst nach Ratifizierung erfolgen.
Allerdings ist der internationale Druck auf Armenien enorm. Die USA sind aus geopolitischen Gründen sehr stark an einem Friedensschluss im südlichen Kaukasus interessiert, weil nur dann die Öl- und Gasreserven des kaukasischen Beckens ohne allzu große Risiken gen Westen transportiert werden können.
Für das geografisch völlig isolierte Armenien ist ein Vertrag mit der Türkei „ohne Alternative“, wie Präsident Sarkasian am Samstag sagte. Die Türkei könnte bei einer Aussöhnung ihre regionalpolitische Rolle stärken und gleichzeitig einen großen Brocken auf dem Weg in die EU beiseite räumen.
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