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Zum Verlieben schön

An der Deutschen Oper Berlin wurde „Heart Chamber“ von der Komponistin Chaya Czernowin uraufgeführt. Eine große Oper ohne all das, was sonst zu einer großen Oper gehört

„Heart Chamber“, Patrizia Ciofi auf der Treppe und träumend Foto: Michael Trippel

Von Niklaus Hablützel

Es beginnt dem Solo eines Kon­trabasses. Elektronisch verstärkt wie alles, was hier noch zu hören sein wird, öffnet er einen akustischen Raum, in dem zweifellos komplizierte, dennoch unmittelbar erfahrbare Gesetze gelten. Uli Fussenegger, der Solist, erkundet die möglichen Klänge seines Instruments. Schwirrend hohe Flageoletts, schnarrende Tiefen, gezupft, mit dem Bogen gestrichen oder geschlagen, zu Clustern geschichtet, gleitende Kaskaden.

Es ist wahrscheinlich irrsinnig schwer, so zu spielen, aber das Tempo ist so langsam, dass auch noch die kleinste Berührung irgendeines Teiles dieses Klangkörpers ein Ereignis ist, und zwar ein schönes. Nur dieses Adjektiv passt, alles andere sagte zu wenig. Es geht um Schönheit, nicht um avantgardistisch gemeinte, auf ästhetische Schocks zielende Effekte mit Geräuschen. Das Spiel mit dem Material des Klangs ist kein Experiment, es ist in sich vollendet.

Ist es Musik? Das Solostück des Anfangs endet in genau zwei Tönen. Es folgt einer fest vorgeschriebenen Form, wie alles weitere an diesem Abend, der nur 90 hoch konzentrierte Minuten lang ist. Was es darin nicht gibt, sind Melodien, Harmonien und Rhythmen. Es gibt nur Tonhöhen, über das ganze hörbare Spektrum hinweggleitend, es gibt Schichtungen von Tönen, die manchmal wie harmonische Akkorde klingen. Aber es sind keine, sondern nur das vor­übergehende Ergebnis linearer Sequenzen von Tönen und ihren charakteristischen Frequenzen. Sie schreiten pulsierend voran, mal schneller, mal stockender, durch Stille oder harte Einzelschläge unterbrochen, ein fester Rhythmus ergibt sich daraus nie.

Geschrieben hat dieses Stück Chaya Czernowin, 1956 in Haifa geboren, heute unter anderem Professorin für Komposition an der Harvard University bei Boston, Massachusetts. Wenn der Kontrabass zu Ende gespielt hat, öffnet sich der Vorhang für die Bühne von Regisseur Claus Guth und Bühnenbildner Christian Schmidt. Vor einer schwarzen, weiß eingerahmten Wand sitzen links Patrizia Ciofi (Sopran) und Noa Frenkel (Alt), rechts mit weitem Abstand dazwischen Dietrich Henschel (Bariton) und Terry Wey (Countertenor).

„Heart Chamber“ heißt das Werk. Den Text hat die Komponistin selbst verfasst. Im Untertitel soll es „An inquiry about love“ sein, was nicht ganz zutrifft. Über die Liebe und ihre ebenso tragischen wie komischen Dramen ist in der Oper vermutlich längst alles gesungen worden. Was aber fehlt, ist der Akt des Verliebens selbst – übrigens auch in der Psychologie und der Philosophie. Es ist keine Handlung, eher eine Infektion. Glück und Angst sind kaum zu unterscheiden, wir rufen uns zur Ordnung, geben doch nach und lächeln dabei so blöd, dass wir uns eigentlich schämen müssten. Aber wofür?

Wir wissen es nicht, und nur darum geht es Czernowin. Es gelingt ihr, diesen notorisch blinden Fleck zum Klingen zu bringen, weil ihre Musik niemals ein womöglich auch noch dramatischer und zu Tränen rührender Ausdruck tiefer Gefühle sein kann. Sie ist materiell und konkret.

Die Komponistin Chaya Czernowin hört überall Natur, nicht Gefühl

Czernowin hört überall Natur, nicht Gefühl. Minutenlang summt die elektronisch überarbeitete Feldaufnahme eines Bienenschwarms durch den Saal. Spezialisten des Elektronikstudios am SWR haben den Ton einzelner Blätter aufgenommen und gefiltert. Das Ergebnis ist ein narkotisiernd endlos pulsierendes Klappern, Rauschen und Wispern, das auf die Singstimmen antwortet, unterstützt von einem kleinen Solistenchor, einem Kammerensemble aus Klavier, Schlagzeug, E-Gitarre, Saxofon und dem kompletten Symphonieorchester der Deutschen Oper.

Johannes Kalitzke, selbst Komponist, kennt die Arbeiten von Chaya Czernowin sehr gut und entlockt den oft schlecht gelaunten Damen und Herren im Graben wundersame Töne, die ihnen sonst verboten sind: klanglos am Steg gestrichene Glissandi der Streicher, verhauchte und verrotzte Bläser in allen Tonlagen. Claus Guth ist klug genug, dieses Universum der konkreten Materie durch kein Psychotheater des Liebesleids zu verkleinern. Es gibt nicht einmal Namen, nur „Sie“ und „Er“. Beide brauchen jedoch jeweils zwei Stimmen, weil der innere Konflikt des Verliebens sonst nicht darstellbar wäre. Angst, Verletzlichkeit, Lust, Erwartung und Glück überlagern sich unentwirrbar.

Die Drehbühne zeigt auf der Rückseite der schwarzen Wand einen modernen Betonbungalow mit Freitreppe. Sie und Er begegnen sich, singen sprechend mit ihrer einen Stimme, denkend mit der anderen. Guth zeigt dazu schwarzweiße Videos von Straßen und Innenräumen, belebt von Paaren und ­Passanten, dazu Nahaufnahmen von Bienen, Händen, Gesichtern. Das ist gut, weil es nicht mehr ist als das optische Gerüst für eine extreme Musik, die gar nichts erklären oder verstehen will. Sie bringt die wortlose Verwirrung zum Klingen, die wir – hoffentlich – alle kennen. Es ist zum Verlieben schön. Und große Oper außerdem. Begeisterter Applaus nach der Premiere vom Freitag.

Wieder am 21./26./30. November in der Deutschen Oper

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