Die Taktgeberin der Zukunft

Marin Alsop ist die neue Dirigentin des Radio-Symphonieorchesters Wien –als erste Frau in dieser Position. Die Pionierinnenrolle ist nichts Neues für sie

„Wien ist die am wenigsten konservative Stadt, in der ich je gearbeitet habe“, sagt Marin Alsop, aufgewachsen in New York Foto: Grant Leighton

Von Regine Müller

Der große Sendesaal des ORF ist bis auf den letzten Platz besetzt. Unter den Gästen: viel Musikprominenz. Darunter auch der Komponist Friedrich Cerha, dessen Stück „Drei Sätze für Orchester“ das Jubiläumskonzert zum 50. Geburtstag des ORF-Radio-Symphonieorchesters Wien (RSO) eröffnet. Am Pult vorne sieht man dort seit Saisonbeginn ein neues Gesicht: Dirigentin Marin Alsop leitet das Orchester seit September.

Das Wiener Radio-Symphonieorchester hat sich in der Musik­landschaft Wiens ein ganz eigenes Profil erarbeitet, denn neben dem klassischen Repertoire hat es sich vor allem für die Werke der klassischen Moderne und der zeitgenössischen Musik stark gemacht. Alsop ist derzeit auch noch Chefin des São Paulo Symphony Orchestra und des Baltimore Symphony Orchestra – dort übernahm sie 2008 und war die erste Frau, die ein großes US-Orchester dirigierte. In ihrer Laufbahn hat sie sich immer sehr für zeitgenössische Musik eingesetzt. Entsprechend selbstverständlich war es für sie, eine Komposition von Friedrich Cerha auf das Programm zu setzen: „Es schien mir völlig stimmig, etwas von ihm zu nehmen. Und auch, sein Stück mit einer Schumann-Symphonie in der Bearbeitung von Gustav Mahler zu kombinieren. Das ist eine schöne Wiener Verbindung! Ein Blick auf Alte Musik durch Mahlers Augen.“

Innerhalb von knapp zwei Wochen dirigierte Marin Alsop nicht weniger als drei Konzerte: ihr Antrittskonzert, das Eröffnungskonzert des Festivals „Wien Modern“ und nun das Geburtstagskonzert. „Es ist ein großes Privileg, in einer so schönen Stadt zu arbeiten, wo jedes Gebäude Geschichte und Tradition ausstrahlt. Ich habe es geliebt, diese verrückte Musik beim Eröffnungskonzert von ‚Wien Modern‘ zu dirigieren.“ „Verrückt“ nennt sie es wohl auch deshalb, weil Jón Leifs „Hekla“ ein einziges sich verdichtendes Acht-Minuten-Crescendo war – das nicht alle zu goutieren wussten: es gab auch Buhrufe im Saal. Das ist etwas, das sie aushält als Vermittlerin zwischen Altem und Neuem: „Die Musik und die Kunst, die ich mag, steht immer mit einem Fuß in der Vergangenheit und öffnet sich zugleich für die Zukunft. Ich habe das Gefühl, dass Wien eine Metapher dafür ist: Es ist so getränkt mit Tradition, aber es will sich in die Zukunft bewegen.“

Die Musikmetropole Wien steht vor allem für ihre berühmten Orchester und gravitätisch anmutenden Institutionen wie die Wiener Staatsoper. Alsop sieht an Wien aber auch das Erbe radikaler Erneuerer wie Arnold Schönberg. „Es scheint mir die am wenigsten konservative Stadt zu sein, in der ich je gearbeitet habe. Das Radio-Symphonieorchester ist sehr innovativ und vorausdenkend. Wenn ich bei den Symphonikern oder den Philharmonikern arbeiten würde, sähe das anders aus, weil sie ein bestimmtes Kernrepertoire haben, das sehr traditionell ist. Aber dieses Orchester hat die Tradition, innovativ zu sein. Mein Antrittskonzert als Chefdirigentin habe ich mit zwei Werken von Paul Hindemith programmiert: so etwas würde in den USA niemals gehen, niemals!“

Alsop, die schon vor ihrem Dienstantritt als Gastdirigentin in Wien wirkte, schätzt die Wendigkeit ihres Ensembles. „Sie sind sehr offen, sie haben einen guten Sinn für Humor, sie lachen zumindest über meine Witze. Und sie arbeiten hart. Sie versuchen, sich jedem Stück mit echtem Respekt zu nähern.“

„Sie haben einen guten Sinn für Humor, zumindest lachen sie über meine Witze“

Marin Alsop über ihr Orchester

Marin Alsop wurde 1956 geboren und begann ihre Karriere als Dirigentin bereits 1989, als Frauen am Taktstock noch eine absolute Rarität waren. „Die Herausforderungen bestanden darin, die gleichen Möglichkeiten zu haben wie Männer. Das ist bis heute die Herausforderung für Frauen: Die Möglichkeit haben, in der gleichen Weise wie Männer wachsen zu können und Erfahrungen machen zu können. Und auch Fehler machen zu dürfen. Du darfst als Frau immer noch keine Fehler machen, was wirklich unfair ist, denn man kann nur lernen, indem man auch Fehler macht. Aber es war nie schwer für mich, auf die Bühne zu gehen. Nur anfangs sagten die Leute: Mein Gott, es ist ja eine Frau!“

Einer ihrer einflussreichsten Mentoren war der große Lenny Bernstein. Aber auch er war noch gefangen in den alten Geschlechterklischees. „Einmal hörte er bei einer Probe von mir zu. Normalerweise sprang er immer um mich herum, aber diesmal saß er still im Publikum. Als ich ihn danach fragte, was los war, sagte er: ‚Oh, ich habe die Augen geschlossen und versucht herauszufinden, ob ich hören kann, dass da eine Frau dirigiert. Und ich konnte es nicht hören!‘ Also, auch er hatte Schwierigkeiten, eine Frau in dieser Rolle zu akzeptieren.“

In den vergangenen Jahren haben immer mehr Frauen die einst unbestrittene Männerdomäne am Pult bedeutender Orchester erobert. Mirga Gražinyte-Tyla (Chefin in Birmingham) und Joana Mallwitz (Nürnberg), Oksana Lyniv (Graz) und Speranza Scappucci (Lüttich) werden als Stars gehandelt. Alsop sieht das aus der Position der Vorreiterin – sie behauptet sich seit 30 Jahren in diesem Beruf. „Es ist eine sehr grundsätzliche Veränderung der Musiklandschaft, mehr als eine Mode. Aber zugleich fühle ich, dass das jetzt der Moment ist, wo man besonders wachsam sein muss, weil viele sagen, jetzt läuft es doch, es gibt doch jetzt Frauen in diesem Beruf. Nein, gerade jetzt müssen wir weiter Druck machen.“