piwik no script img

Europa unter der Lupe

Die Regisseurin Anne-Cécile Vandalem aus Belgien hat mit ihrer Kompanie „Das Fräulein“ zwei aufregende Gastspiele in der Schaubühne gezeigt. Dort inszeniert die Krimiliebhaberin jetzt ihr Stück „Die Anderen“

Von Nicholas Potter

Anne-Cécile Vandalem hat eine Vorliebe für Krimis – oder „le polar“, wie die Belgierin es ausdrückt. An sich kein überraschendes Statement, doch in der Theaterwelt irgendwie Neuland. Wo sind eigentlich die Theaterkrimis, die Bühnenthriller, die Horrorstücke?

Packende Handlungen stehen für die 1979 geborene Dramatikerin und Theaterregisseurin stets im Vordergrund: „Ich glaube wirklich an die Macht der Fiktion. Es ist für mich die einzige Möglichkeit, dieser Realität zu entkommen, in der wir allzu oft gefangen sind. Ich nehme wahre Begebenheiten oder Probleme aus unserer Gegenwart und übersetze sie ins Fiktive.“Dies schaffe die nötige kritische Distanz, so Vandalem. Denn: „Theater muss uns eine Möglichkeit bieten, um aus dieser Realität auszubrechen.“ Und für sie bedeutet das eben: „le polar“.

Vandalems Produktionen haben eine fast cineastische Qualität – und das nicht nur wegen Livekameras auf der Bühne. Vielmehr kombinieren ihre thrillerartigen Inszenierungen spannungsvolle Musik, twistlastige Handlungen und hyperrealistische Bühnenbilder. Dieser fesselnde Stil ist das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit mit ihrer Kompanie „Das Fräulein“, bestehend aus einem Szenografen, Kostümbildner, Kamerateam und Sounddesigner. Ihr Stil gewinnt der Regisseurin viele Fans zurzeit. „Tristesses“ (2016) und „Arctique“ (2018) wurden als Darlings beim Festival d’Avignon gefeiert und erregten die Aufmerksamkeit der Berliner Schaubühne, die beide Inszenierungen zum FIND-Festival einlud. Jetzt hat die Schaubühne die Theatermacherin mit einer ersten Inszenierung für das Haus beauftragt.

Grönland ist aufgetaut

Reiner Hollywood-Eskapismus sind ihre Stücke allerdings nicht. Bei Vandalem brodelt Politik dicht unter der narrativen Oberfläche. „Arctique“ spielt zum Beispiel 2025 auf einem leeren Kreuzfahrtschiff, das nach Grönland abgeschleppt wird, einem unabhängigen, von der Klimakrise aufgetauten und daher rohstoffreichen Land. An Bord befinden sich sechs einander unbekannte Personen, die ein mysteriöser Brief auf die Reise lockte.

Oder in „Tristesses“: Da trifft eine Art Politkrimi auf eine schwarze Komödie. Ort der Handlung ist eine dänische Insel, wo eine Frau – deren Töchter Vorsitzende einer rechtsextremen Partei sind, die kurz vor der Machtübernahme steht – sich an einem Flaggenmast erhängt. Dabei steht Dänemark zwar als Sinnbild für einen europäischen Rechtsruck, das Land findet Vandalem aber auch aus einem anderen Grund politisch interessant: „Dänemark wählte eine rechtsextreme Partei in die Regierung und wurde zum dritten Mal in Folge zur ‚glücklichsten Nation Europas‘ gekürt. Ich wollte diesen Widerspruch untersuchen, dass die Dänen Fremde von ihrem Glück fernhalten wollen.“

Dabei sind Krimis ein geeignetes Vehikel für ihre Gesellschaftsanalysen.„Ich mag die Intrigen von Krimis. Diese bieten mir eine Möglichkeit, in Figuren ­einzutauchen, die nach einer Wahrheit oder Lösung zu einem Problem suchen. In meinen Stücken fängt es immer mit einem Ereignis an, das die Figuren verstehen müssen. Manchmal heißt das, auf einem Schiff gefangen zu sein, manchmal ist jemand gestorben. Warum befinden sie sich in dieser Situation, und wie können sie ihr entgehen? Meistens sterben sie aber dann selber.“ Den letzten Satz spricht sie in einem trockenen Ton, der den schwarzen Humor in ihren psychologischen Charakterstudien widerspiegelt.

Denn obwohl Vandalem eine Neigung zum Makabren, zu düsteren Handlungen mit politischen Botschaften hat, spielt Komik eine wichtige Rolle: „Humor ist essenziell. Nur so kann ich meine Arbeit machen, weil ich nur so leben kann. Ich muss jeden Tag eine gewisse Menge lachen. Und je tiefer ich in Tragödien oder die dunkle Seite des Lebens eintauche, desto mehr Humor entsteht aus diesen Situationen.“

„Humor ist essenziell. Nur so kann ich meine Arbeit machen, weil ich nur so leben kann. Ich muss jeden Tag eine gewisse Menge lachen“

Anne-Cécile Vandalem, Regisseurin

Vandalem interessiert sich für die Versäumnisse von Menschen, ihre Defizite: „Ich mag Loser“, sagt sie. „Eigentlich habe ich immer vor, als Nächstes endlich eine Komödie zu schreiben. Dabei kommt dann jedoch immer wieder ein Thriller oder ein Horrorstück heraus.“

Ihre erste Produktion für die Schaubühne bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme: „Die Anderen“ ist ein humorvolles Horrorstück mit politischen Akzenten. Wir befinden uns in einem abgelegenen Dorf in Mitteleuropa, in einem namenlosen Land, das seine Grenzen gerade geschlossen hat. Menschen fliehen aus dem brennenden Süden in den regnerischen Norden. Nach einem Unfall ist ein junger Geflüchteter im Dorf gestrandet und ahnt, dass die Dörfler*innen ein düsteres Geheimnis haben. „Es ist eine Fabel, eine Metapher. Wir gucken Europa durch die Lupe an.“

Originell klingt die Handlung nicht, allerdings weiß Vandalem ganz genau, mit welchen filmischen Klischees sie spielen kann. „Am ersten Produktionstag habe ich gesagt: Ich will kein ‚Dogville‘ machen“ – ein Lars-von-Trier-Film über eine Frau auf der Flucht, die Schutz in einem Dorf sucht. „Aber klar, wir sind vom Horrorgenre stark beeinflusst, ein Genre, das man in der Theaterlandschaft sehr selten sieht.“ Filmische Zitate ziehen sich durch ihre Inszenierungen wie kleine Hommagen. Die erste Idee für ihr Schaubühnendebüt war eine Adaption des Horrorklassikers „The Texas Chainsaw Massacre“, bevor sie stattdessen „Die Anderen“ schrieb.

Dennoch möchte Vandalem sich vom Kino abgrenzen. „Auch wenn es cineastisch wirkt, bleibt es Theater“, betont sie. „Keine Spoiler!“, ruft sie, als ich sie frage, was der große, von ihr versprochene Twist im neuen Stück ist. Nur so viel will sie verraten: „Die Geschichte des Dorfes beschreibt einen Wendepunkt. Man muss sich fragen, wer ‚die Anderen‘ eigentlich sind.“ An Spannung mangelt es also nicht – das Popcorn aber lieber zu Hause lassen.

„Die Anderen“, Premiere am 28. November in der Schaubühne

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen