: Nach Karlsruhe ist vor Karlsruhe
Ein Selbstauflösungsrecht des Bundestags hätte uns das Schröder-Theater erspart – bleibt aber unwahrscheinlich
BERLIN taz ■ Bundestagspräsident Wolfgang Thierse war sich sicher: Die gestrige Karlsruher Verhandlung über das frühe Ende der Legislaturperiode ist nur ein Etappe. Er halte es für besser, sagte er, dass „wir das Grundgesetz ändern sollten und ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages in der Verfassung verankern“. Wozu? Thierse will es einer Regierung nicht noch einmal zumuten, den Bundestag auf dem „mühseligen Weg durch das Nadelöhr“ einer fingierten Vertrauensfrage aufzulösen.
Die umständliche Art der Auflösung des Bundestags – Vertrauensfrage mit dem Ziel des Misstrauens – am 1. Juli war auf viel Unverständnis gestoßen. Verfassungsexperten sehen die Ursache auch darin, dass dem Bundestag schlicht ein Recht auf Selbstauflösung fehle – ein Unikum unter den demokratischen Verfassungen.
Im Grundgesetz war Ende der 40er-Jahre unter dem Eindruck des Scheiterns der Weimarer Republik hohe Hürden zur Auflösung des Parlaments eingebaut worden. Laut Grundgesetz kann der Kanzler der Bundesrepublik nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt werden; und der Bundestag kann sich auch nicht selbst nach Hause schicken. In den Jahren 1928 bis 1933 tagte kein Reichstag bis zu seinem Ende. Fünfmal wurde vorzeitig neu gewählt – danach riss die Reichsregierung unter Adolf Hitler die Gesetzgebungsbefugnis an sich.
Für Thierse freilich ist Berlin 2005 nicht mit Weimar in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts vergleichbar. „Wir leben in einer stabilen Demokratie“, meint Thierse. „Die Sorgen der Mütter und Väter des Grundgesetzes in der Erinnerung an die Weimarer Republik sind nicht mehr angemessen.“ Dem stimmen viele Verfassungsrechtler im In- und Ausland zu. „Die deutsche Verfassung hat einen Strukturfehler“, sagte etwa der österreichische Politikwissenschaftler Anton Pelinka zur taz: „Es ist praktisch unmöglich, zu vorzeitigen Neuwahlen zu kommen.“ Im Grunde geht es nur noch um eine Stilfrage: dass Bundestag und Bundesrat nach einer politischen Schamfrist gemeinsam ein Selbstauflösungsrecht beschließen. Bereits vor dem trickreichen Misstrauensvotum des Bundeskanzlers war in der rot-grünen Regierung offenbar kurzzeitig erwogen worden, die Verfassung zu ändern – um danach den Bundestag leichter auflösen zu können. Dies wäre als „fallbezogene Verfassungsänderung“ politisch allerdings kaum durchsetzbar gewesen. Seit gestern scheint eine Verfassungsänderung weiter unwahrscheinlich. Bundespräsident wie auch einzelne Verfassungsrichter ließen durchblicken, dass sie ein einfaches Recht zur Selbstauflösung des Bundestages nicht sehen. Das könne „nicht gemeint sein nach den Erfahrungen von Weimar“, sagte Richter Winfried Hassemer. Und im Berliner Präsidialamt hieß es: Bundespräsident Horst Köhler wolle nicht eine neue Staatspraxis etablieren, die zu einem unbeschränkten Selbstauflösungsrecht des Bundestags führe. Nach Karlsruhe ist vor Karlsruhe.
CHRISTIAN FÜLLER