berliner szenen: Frisch gefallene Kastanien
Nach einer Woche im nebelverhangenen und verregneten Harz, in dem die Steinpilze herumstanden, als wäre alles, wirklich alles in Ordnung, warte ich unter der Uhr am Rosenthaler Platz auf R., den ich ein halbes Jahr nicht gesehen habe. Wir laufen den Hügel rauf zu einem Café, wo ich schon vor 25 Jahren saß und das es sicherlich schon immer gab. Es ist einer der letzten warmen Oktobertage und wir setzen uns nach draußen.
Ich erzähle R., wie es war, mit drei Kindern, davon zwei in der Pubertät, auf den Brocken zu wandern – und wie währenddessen eine der Töchter fünfzehn Minuten einer Freundin am Handy erzählte, wie scheiße das alles sei.
Einen Tisch weiter sitzt ein Schauspieler und wir brauchen eine Weile, bis uns der Name einfällt. R. sagte dazu, wir hätten ein Alter erreicht, in dem das jetzt etwas länger dauere. Er fragt, wie es mir gehe. Ich sage „gut“, aber manchmal würde ich Dinge sehen und dann überlegen, wie oft ich sie noch sehen werde.
R. sieht mich neugierig an. „Zu unkonkret, oder?“, sage ich. „Ja“, sagt er. „Na gut, also, als wir gerade den Hügel hochgingen, lagen Kastanien auf dem Gehsteig und ich dachte, wie viele Male werde ich noch in meinem Leben frisch gefallene Kastanien auf einem Gehsteig sehen, verstehst du?“ R. lacht auf, er lacht mich aus. Dann hält er inne und entschuldigt sich. Ich sage, dass es schon in Ordnung sei, darüber zu lachen, das habe ja schließlich auch ein komisches Moment.
Wir wechseln das Thema und kommen Minuten später wieder darauf zurück. R. sagt, er würde das Wort Midlife-Crisis nicht benutzen, er könne damit nicht viel anfangen. Ich sehe ihn kurz an und denke, dass er ein paar Minuten zuvor davon sprach, dass er sich in ebendieser befände, aber ich erinnere ihn nicht daran. Ihm das und mir die Kastanien. Björn Kuhligk
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