Regisseurin Maryam Zaree: „Licht auf das Verborgene werfen“

Maryam Zarees Regiedebüt „Born in Evin“ handelt vom bekanntesten Foltergefängnis im Iran. Und von Menschen, die es überlebt haben.

Eine junge Frau in Lederjacke steht vor einer besprayten Wand und lächelt

Mit 12 Jahren erfuhr Zaree von ihrem Geburtsort: dem Foltergefängnis Evin Foto: Wolfgang Borrs

taz: Frau Zaree, Sie wurden 1983 im iranischen Foltergefängnis Evin in Teheran geboren. Haben Sie Erinnerungen an diese Zeit?

Maryam Zaree: Nein, keine bewussten. Deshalb war es lange schwierig für mich, damit umzugehen. Mein Anfang in dieser Welt ist etwas, zu dem ich kaum eine Verbindung habe. Wenn die Erfahrung der Verfolgung und Inhaftierung im Erwachsenenalter stattfindet, dann ist das ein bewusster Zeitpunkt im Leben – aber wenn das nicht so ist wie bei mir, dann gibt es irgendwie eine Form von Entkopplung.

Erst mit zwölf Jahren haben Sie durch Zufall von Ihrer Tante erfahren, dass Sie im Gefängnis geboren wurden.

Das war für mich so, als hätte mir jemand gesagt, auf dem Mars haben sie Menschen gefunden, die sind rosa und sehen aus wie Elefanten. Das ist vielleicht eine komische Assoziation, aber diese Information war für mich viel zu abstrakt. Ich hatte überhaupt keine Erinnerung an den Iran, ich kann bis heute nicht dort hinreisen. Die einzige Vorstellung, die ich vom Iran hatte, war, dass es irgendwie etwas Bedrohliches ist, von dem wir weg mussten.

Ihre Eltern waren unter dem Regime von Ruhollah Chomeini politische Gefangene. Wussten Sie das damals?

Ich glaube, dass ich vieles erahnt habe. Irgendetwas hat sich auch ohne bewusste Erinnerung in meinen Körper und in mein Sein eingeschrieben. Meine Mutter floh nach der Freilassung mit mir nach Deutschland. Aber mein Vater war abwesend, weil er noch jahrelang im Gefängnis war. Also ich denke, ich wusste viel, aber ich hatte dazu keinen Zugang. Das war auch eine Motivation, den Film zu machen.

Die Schauspielerin, Autorin und Regisseurin Maryam Zaree wurde 1983 im iranischen Evin-Gefängnis geboren, weil ihre Eltern politische Gefangene waren. Mit etwa acht Monaten wurde sie aus der Haft entlassen und kam zu ihren Großeltern. Ihre Mutter war noch rund ein Jahr inhaftiert, bevor sie gemeinsam 1985 nach Deutschland flohen. Zaree wuchs in Frankfurt am Main auf. Später studierte sie Schauspiel an der Filmuniversität Babelsberg und spielte diverse Theater- und Kinorollen. Seit dem 17. Oktober 2019 läuft ihr Dokumentarfilm „Born in Evin“ im Kino.

In Ihrer Dokumentation „Born in Evin“, die seit dem 17. Oktober in den Kinos läuft, sprechen Sie mit vielen ehemals Inhaftierten, gleichzeitig ist der Film eng mit Ihrer eigenen Geschichte verknüpft. Sie haben vier Jahre lang daran gearbeitet – wie sind Sie an dieses Projekt herangegangen?

Am Anfang wollte ich gar nicht darin vorkommen. Die Idee war, andere Kinder und Überlebende zu finden und die zu porträtieren. Und ich wollte hinter der Kamera bleiben.

Warum haben Sie sich anders entschieden?

Es hat lange gedauert, aber irgendwann habe ich begriffen, dass der Film so nicht funktionieren kann, weil er sich mit Verdrängung beschäftigt. Das Ziel war ja, Licht auf das zu werfen, was im Verborgenen liegt. Ich musste also vortreten in diese Gefilde, die mir Angst machen und nicht die Verdrängung fortführen. Ich habe über ein Jahr Widerstand geleistet, selbst Protagonistin zu werden. Es war sehr schwierig, das abzuwägen. Am Ende habe ich mich doch dafür entschieden, dass auch meine Familie vorkommt.

Sie wuchsen mit Ihrer Mutter und später mit Ihrem Stiefvater in Frankfurt am Main auf. Ihr Vater war insgesamt sieben Jahre inhaftiert, bis er auch nach Deutschland kam. Haben Sie mit Ihrer Mutter über die Zeit in Evin gesprochen?

Kaum. Meine Mutter konnte über ihre eigene Verwundung und die Entwürdigung, die sie erlebt hat, nicht sprechen.

Wissen Sie denn heute, wie der Alltag für Kinder im Gefängnis aussah?

lm Film erzählen mehrere Frauen darüber, aber es gibt auch Forschung dazu. Es gab sexuelle Gewalt, Hunderte Menschen waren auf engstem Raum eingeschlossen. Sie wurden gefoltert und gedemütigt, auf unvorstellbar grausame Weise. Bei den Müttern wurde das System auch auf die Kinder ausgeweitet.

Als Sie von Ihrer Tante erfuhren, dass Sie im Gefängnis zur Welt gekommen sind, was haben Sie da gemacht?

Ich habe einfach weitergelebt, als hätte es diese Information nicht gegeben.

Sie haben nicht mal Ihre Mutter gefragt, ob es stimmt?

Nein. Ich habe erst Jahre später einer Freundin davon erzählt. Auch ganz heimlich. Gefängnis stand natürlich für etwas ganz Schlimmes und ich wusste keinen Umgang damit. Aber eigentlich gibt es doch in jeder Familie Dinge, über die nicht gesprochen wird. Es gibt Strategien, ein Gespräch, das sich in eine schwierige Richtung entwickelt, so umzuwandeln, dass es nicht stattfindet. Es ist wie ein nonverbaler Vertrag, dass man dahin, wo es wehtut oder wo es wehtun könnte, nicht geht.

Aber das, was wehtut, kam dann mit 22 Jahren zu Ihnen. Sie hatten in Marokko eine Panikattacke.

Ja, das war eine szenische Erinnerung. Ich saß in einem Bus und konnte die Musik dort nicht ertragen und hab mir die Ohren zugehalten. Als ich das später meinem Vater erzählt habe, erklärte er mir, dass es eine akustische Foltermethode im Gefängnis war, Häftlinge mit Koransuren zu beschallen.

Das klingt unheimlich. Wenn man sich nicht bewusst erinnert und dann plötzlich etwas aufkommt, was offenbar irgendwo im Körper abgespeichert ist.

Ich hatte das Glück, dass ich mit meinem Stiefvater darüber sprechen konnte und das genau sein Forschungsgebiet als Psychologe war. Er hat mir sogar Texte gezeigt über Kinder von Schoah-Überlebenden, die szenische Erinnerungen hatten von Erfahrungen der Eltern, die sie selbst gar nicht erlebt haben. Plötzlich gab es eine Einbettung in die Forschung und das hat es für mich verstehbarer gemacht. Es ist schon ein sehr interessantes Feld. Auch diese ganze nonverbale Kommunikation.

Sie meinen das Schweigen?

Na ja, ich habe so viele Streitgespräche mit meinem Stiefvater darüber geführt, weil ich es immer Schweigen genannt habe und er nannte es immer „das vermeintliche Schweigen“. Und heute würde ich ihm recht geben. Weil trotzdem gesprochen wird. Wir kommunizieren über so viele Kanäle, auch über die „Leerstellen“.

Ihr Stiefvater ist selbst Kind von Holocaust-Überlebenden und beschäftigt sich mit der Tradierung von Traumata. Und dann kommt er mit Ihrer Mutter zusammen, die im Iran politisch inhaftiert war, Verhaltenstherapeutin wird, aber nicht über ihre Vergangenheit sprechen kann. Kommt Ihnen das eigentlich auch so unglaublich vor?

Jede Geschichte für sich ist eigentlich schon so unglaublich. Da fragt man sich schon, wie das Leben Menschen zusammenführt und wo Liebe entstehen kann. Einerseits ist es emotional berührend, aber ich kann mir auch rational herleiten, dass Menschen, die vielleicht eine ähnliche Verwundung haben, die beide etwas in sich tragen, dass so erschütternd ist, sich beieinander aufgehoben fühlen.

Haben Sie sich denn vor der Panikattacke in Marokko gar nicht mit der Zeit im Gefängnis auseinandergesetzt?

Doch, doch. Mein Vater und ich haben irgendwann angefangen, darüber zu sprechen. Als ich 18 wurde, hat er mir seinen Asylantrag gegeben. Da waren sehr explizite Folterbeschreibungen und Gefängniserfahrungen notiert.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Wie haben Sie das in dem Alter verkraftet?

Ich war komplett überfordert. Ich glaube aber, mein Vater hat sich auch hilflos gefühlt. Wie vermittelt man seinem Kind das eigene Versehrtsein? Es ist auch interessant, dass er mir diesen Antrag gegeben hat. Die Täter sind immer noch an der Macht, vierzig Jahre nach dem, was ihm passiert ist. Es hat keinerlei Anerkennung für diese Verbrechen gegeben. Dann belegt so ein Dokument auch eine Zeugenschaft, die sagt: doch, es hat etwas stattgefunden, wir hören dich.

Weil der Antrag das Unrecht dokumentiert, das ihm widerfahren ist?

Ich hätte es nie infrage gestellt, dass ihm das passiert ist, aber für ihn muss das wichtig gewesen sein. Mich hat nur interessiert: Wie geht es dir damit? Wie lebst du damit?

Und, wie lebt er damit?

Die Verstörung, die da stattgefunden hat, diese Erfahrung, verletzt und entmenschlicht zu werden, nur weil man eine andere politische Überzeugung hatte – damit zu leben ist natürlich schwierig, aber er meistert das heldenhaft. Da gibt es auch einen Unterschied in den Generationen.

Wie meinen Sie das?

Die erste Generation kämpft oft mit Überlebensschuld. Es wurden so viele Menschen in den Gefängnissen ermordet und mein Vater will sich nie mit seiner Geschichte in den Vordergrund drängen. Das macht er ja auch in dem Film nicht. Er spricht nicht über sich, sondern fühlt sich verpflichtet, den anderen seine Stimme zu geben.

So wie Sie vielleicht auch anfangs nur hinter der Kamera stehen wollten?

Vielleicht. Ich musste aber auch Protagonistin werden, um dem Film eine dramatische Struktur zu geben, es war das Heldenreisenprinzip. Also jemand zieht los und macht sich auf die Suche, damit sich der Zuschauer identifizieren kann. Bei der Überlebensschuld gibt es aber dieses psychologische Phänomen. Wenn Überlebende sich als Sprachrohr verstehen und die Geschichten der anderen erzählen, ist das vielleicht auch ein Versuch, das eigene Trauma zu relativieren.

Ihr Vater zeigt im Film ein Handtuch, das er aus dem Gefängnis mitgenommen hat und unter seinem Bett aufbewahrt. Er erzählt, dass Gefangene alle ein Handtuch hatten und dass es weitergegeben wurde, sobald jemand gehängt wurde. Er war der dritte, der es benutzte. Kannten Sie dieses Handtuch schon vor der Filmrecherche?

Ja, weil wir immer wieder über diese Zeit gesprochen haben. Oft wurden diese Gespräche ausgelöst durch Geschichten oder Filme, die von anderen Entrechtungen erzählt haben. Er sprach immer mit dem Vorbehalt, mich nicht verletzen zu wollen und zu belasten. Aber er wusste: es hat eine Bedeutung, es muss erzählt werden. Vielleicht hat er sich verpflichtet gefühlt, mir meine Fragen zu beantworten. Ich habe so erfahren, wie Freunde von ihm ermordet wurden oder wie die Gefängniszellen aussahen. Ich wollte das alles bewahren. Ich hatte Angst, wenn meinem Vater etwas passiert, dann ist diese Erinnerung verschwunden.

Der Film war also Produkt eines sehr langen Prozesses?

Ja, es hat sich über mein Leben gezogen. Es waren immer kleine Mosaiksteine, die dazukamen. Mir wurde irgendwann klar, es ist nicht nur die Geschichte meiner Eltern und mir. In diesem Film sollen Leerstellen von anderen mit gefüllt werden und dadurch ist es auch nicht mehr die Geschichte einer Person, sondern von uns allen.

War das Filmprojekt für Sie auch eine Form von Aufarbeitung?

Was mir wichtig ist: Ich wollte nichts verarbeiten. Ich habe jahrelang Psychoanalyse gemacht. Es ging mir nicht darum, den Film zu nutzen, um in meiner Selbstfindung weiterzukommen oder mich meiner Mutter zu nähern. Mir ging es um die Frage: Wo ist die persönliche Geschichte auch eine kollektive Geschichte? Wo sind die Konsequenzen eines persönlichen Traumas eigentlich auch ein gesellschaftliches Trauma?

Also ein politischer Akt?

Ja. Diese Dokumentation ist auch mein Akt des Widerstandes gegenüber dem Regime. Alle, die daran gearbeitet haben, ermöglichen, dass das, was in Evin stattgefunden hat, nicht im Privaten bleibt. Die Folterstrategien sollten den Menschen im Persönlichen brechen und ideologisch so umerziehen, dass das Individuum ausgelöscht wird. Ich möchte mit diesem Film dieser Ideologie die Individualität meiner Protagonisten entgegenhalten – ihre Würde zeigen, die Schönheit ihrer Menschlichkeit. Neben meinen Eltern erzählen viele ihre Geschichte. Ich wollte zeigen, was aus ihnen geworden ist und wie viel Licht sie aus dem Dunkel getragen haben.

Ich fand es schon als unbeteiligte Zuschauerin sehr schwer, diesen Film auszuhalten. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das für Sie gewesen sein muss, sich all diese Geschichten anzuhören.

Es gibt ja auch im Film den Punkt, wo ich aufgeben will. Einerseits waren meine Kapazitäten in manchen Momenten völlig erschöpft, andererseits hatte ich das Gefühl, es gibt kein Zurück mehr.

Wie sind Sie vorgegangen, klar strukturiert oder eher intuitiv?

Klar strukturiert. Ich stand ja vor und hinter der Kamera und habe gleichzeitig Dinge erfahren, die ich vorher nicht wusste. Wir haben 120 Stunden Material gesammelt. Diese Arbeit hat unser Team so oft an die Grenzen des Aushaltbaren gebracht. Nicht nur die expliziten Folterbeschreibungen, die wir uns stundenlang anhören mussten, waren unerträglich. Auch die Situationen mit Personen, die nichts sagen – oder besser – die vermeintlich nichts sagen, konnten wir kaum aushalten. Der Tonmann hat mir einmal geschrieben, dass er fix und fertig ist, weil er die ganze Zeit nur das Knirschen der Zähne gehört hat.

Born in Evin“ ist Ihr Debütfilm als Regisseurin – vorher waren Sie vor allem als Schauspielerin bekannt. War es so, dass Sie neben diesem Projekt auch zusätzlich noch geschauspielert haben?

Also die Auseinandersetzung mit diesem Thema hatte drei Outputs, ich habe das Theaterstück „Kluge Gefühle“ geschrieben und beim Theaterprojekt „Denials“ am Maxim Gorki Theater mitgemacht. Daneben habe ich dann die zweite Staffel von „4 Blocks“ gedreht und einen „Polizeiruf“ gemacht.

Ich stelle mir das skurril vor, zwischen dieser Dokumentation und dem Schauspiel zu wechseln.

Ich weiß auch nicht, wie ich das gemacht habe. Ich habe mich extrem überlastet gefühlt in dieser Zeit. Aber gleichzeitig hat mir das Schauspielern auch eine Distanz zu mir und meiner Geschichte erlaubt.

Würden Sie sagen, Sie sind Schauspielerin geworden, um sich nicht mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen zu müssen?

Ich sage es ja in dem Film selbst, dass ich mich lange hinter den Geschichten der anderen versteckt habe. Gleichzeitig hatte ich immer einen großen Respekt vor diesem Beruf. Es ist eine Kunst, die uns erlaubt, viele zu sein. Uns in andere Herkünfte, Berufe, Gedanken, die nichts mit uns zu tun haben, hineinzufühlen. Dadurch können wir uns erweitern. Und das ist doch letztendlich das Wunderbare an jeder Form von Kunst, uns im anderen wiederzuerkennen.

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