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Neue soziale Gedanken

Spirituelle Bewegungen gelten oft als weltfremd. Sehr politisch und weltlich trat Rudolf Steiner vor 100 Jahren auf. Sein Konzept der sozialen Dreigliederung ist bis heute aktuell

Von Wolfgang Müller

Es muss eine Standpauke gewesen sein, als Rudolf Steiner 1920 vor Stuttgarter Anthroposophen sprach. Jetzt, „wo die Welt in Flammen steht“, reiche es nicht, privat und unpolitisch seine Innerlichkeit zu pflegen. Nicht „anthroposophisches Geschwätz“ zähle, man müsse heraustreten ins Leben.

Steiner selbst war in die üblichen politischen Kategorien kaum einzuordnen. Zwar hatte er um 1900 jahrelang an der sozialistischen Arbeiterbildungsschule in Berlin unterrichtet. Dennoch kritisierte er die damals dominierenden marxistischen Konzepte, die auf einen Staatssozialismus hinausliefen, wie er dann 1917 mit der Russischen Revolution realisiert wurde. Ein solcher Ansatz, der Politik, Wirtschaft und Kultur praktisch zentral steuert, müsse Freiheit und menschliche Entfaltung ersticken. Die triste Fortsetzung hat Steiner, 1925 gestorben, nicht mehr erlebt.

Ungewöhnlich ist, wie scharf er zugleich die westlichen politischen Modelle angriff, die heute als siegreich gelten. Denn auch hier gehe die Zentralisierung viel zu weit. Dass Politik und Wirtschaft wie in einem Kartell verbunden sind und etwa die Außenpolitik oft nur der Hebel ist, um ökonomische Interessen durchzusetzen, war schon zu Steiners Zeiten sichtbar. Fragwürdige Verbindungen bildeten sich auch in anderen Bereichen.

Wenn beispielsweise Universitäten so staatsnah organisiert sind, dass Professoren Beamte sind, wird dies manch unterschwellige Effekte haben, genauso wie die (eher angelsächsische) Variante, in der sie von mächtigen Sponsoren abhängen. Wie sehr bis heute ein Bewusstsein für diese Problematik fehlt, zeigt sich daran, dass eine Wirtschaftsorganisation als maßgebliche Autorität im Schulwesen gilt: die OECD mit ihren Pisa-Studien.

Steiners Denken ging in die Gegenrichtung: Politik, Wirtschaft und Geistesleben sollten, statt ungut verfilzt zu sein, möglichst ihren eigenen, durchaus unterschiedlichen Prinzipien folgen. Er nannte es „soziale Dreigliederung“:

Erstens: Politisch bedeutet das einen nüchternen Staatsbegriff, ohne jede nationale Überhöhung, beschränkt auf die demokratische Sicherung der Gleichheit aller Bürger.

Zweitens: Die zweite, geistige Sphäre kann demgegenüber ein Raum der Verschiedenheit sein. Hier geht es um vollkommen freie menschliche Entwicklung und Erkenntnis. Staatliche und wirtschaftliche Ansprüche haben hier nichts zu suchen. So forderte Steiner eine Selbstverwaltung der Universitäten (manche Professoren erbleichten). In diesem Kontext steht auch die Gründung einer freien Schule: der 1919, vor einhundert Jahren, eröffneten „ersten“ Waldorfschule.

Drittens: In wirtschaftlicher Hinsicht wandte sich Steiner gegen aus seiner Sicht überholte gesellschaftliche Formen wie die, dass die menschliche Arbeitskraft eine käufliche Ware ist oder dass Kapital familiär vererbt werden kann. Unsere Epoche verlange anderes: Assoziationen, in denen alle Beteiligten Anteile am betrieblichen Gewinn erhalten; Kapital wiederum müsse, wie heute schon geistiges Eigentum, nach einer gewissen Zeit an die Allgemeinheit fallen und von dort in neue produktive Hände übergehen.

Letztlich sah Steiner in der Dreigliederung eine Präzisierung der Ideale der Französischen Revolution. Man müsse verstehen, dass „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ unterschiedlichen Sphären zuzuordnen sind: Freiheit als Maxime in Kultur und Wissenschaft, Gleichheit im Politischen, Brüderlichkeit in der Wirtschaft.

Aktuell daran: Es wird deutlich, dass an sich richtige Ideale in der „falschen“ Sphäre geradezu schädlich wirken können. Greift etwa ein Gleichheits- und Proporzdenken aufs wissenschaftliche Feld über, so wird das trostlose Folgen haben: Wahrheitsfragen lassen sich nicht nach Mehrheiten entscheiden. Umgekehrt wird hemmungslose Freiheit, ins wirtschaftliche Feld übertragen, zu Machtverhältnissen führen, bei denen die menschliche Würde unter die Räder kommt. Allerdings: Diese Sphären-Optik verlangt ein Umdenken. Dazu waren selbst viele Anthroposophen mit ihren, so Steiner, „schläfrigen Seelen“ kaum bereit. Noch abweisender reagierte die Umgebung.

Manche damals diskutierten Fragen mögen sich heute anders stellen. Geblieben ist die Kernaufgabe: der Abbau von Groß-Systemen, die – schleichend totalitär – die Menschen immer engmaschiger regulieren, statt ihnen Luft und Freiheit zu lassen. Auch die Dreigliederung will ja keine neuen Kästchen bilden (zumal jeder Mensch in allen drei Sphären lebt), sondern nur allen Bereichen ihr Recht lassen und eine bewegliche, atmende Gesellschaft ermöglichen.

Damit widerspricht Steiner dem modernen Aberglauben an zentrale Programme, die dann leider „in den Spalten des Lebens durchfallen“. Stattdessen müsse man der Menschheit „ablauschen“, wohin sie strebt und warum sie gesellschaftliche Strukturen, die durch Macht und Herkunft bestimmt sind, „nicht mehr ertragen kann“. Das heutige Empfinden verlange freie Übereinkünfte, die durch inhaltliche Einsichten, „geistig“ begründet sind. Die Dreigliederung sei dabei nicht als Dogma zu verstehen, sondern als „Denkrichtung“, um sinnvolle Lösungen zu finden.

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