: Isidora Sekulić in Norwegen
Nomadisches Momentum – die Reisenotizen der serbischen Schriftstellerin aus dem hohen Norden neu aufgelegt
Von Marica Bodrožić
Als die serbische Schriftstellerin Isidora Sekulić im Herbst 1913 im Alter von sechsunddreißig Jahren zum ersten Mal nach Norwegen aufbrach, war der „Reiz des Nordens“ noch kein bekannter Begriff. Und auch nicht so reizvoll wie der Süden, der aber auch einst den antiken Völkern ein beschwerlicher Weg ins Unbekannte war. Noch heute können Sekulić’Reise-Essays, die sie auf dem Balkan berühmt gemacht haben, jenen von Isabelle Eberhardt oder Annemarie Schwarzenbach standhalten, die in ihrem Leben und Denken Pionierinnen waren und zudem genauer sehen konnten als manch ein in seinen Theorien verstrickter Ethnologe.
Sekulić, die in der von vielen Nationen und Sprachen geprägten Vojvodina zur Zeit der Donaumonarchie 1877 zur Welt kam und in Budapest Mathematik studiert hat, zeichnet außerdem ein Blick aus, mit dem sie die Verbindungen zwischen Natur und Mensch wahrnimmt. Sie war bereits eine Feministin und Kosmopolitin zu einer Zeit, in der der Erste Weltkrieg sich ankündigte, der sie aber nicht davon abhielt, ihren Koffer zu packen und sich auf den Weg zu machen. Den gärenden Konflikten ihrer Zeit zum Trotz ist sie den aus natürlicher Schönheit entstehenden Verbindungslinien des Lebens verpflichtet, die vielleicht aus der Zeit ihrer Tuberkuloseerkrankung rühren und derentwegen sie ihre Arbeit als Gymnasiallehrerin aufgeben musste.
Bis zu ihrem Tod in Belgrad 1958 ist Sekulić, die Deutsch, Russisch, Englisch, Französisch, Schwedisch und Norwegisch sprach und aus diesen Sprachen ins Serbische übersetzte, immer wieder zu Reisen aufgebrochen, die eine selbstständige moderne Frau erkennen lassen. Früh hat sie die Einsamkeit den festen familiären Lebensformen in einer Zeit vorgezogen, in der, anders als in Norwegen, in vielen Ländern Südosteuropas nur wenige Menschen überhaupt alphabetisiert waren.
Die hier vorliegende Textauswahl lässt das Universum im Kontext ihrer Norwegen-Reisen aufleuchten. Sekulić vermag dabei die großen Erzählungen der menschlichen Vorstellungskraft konkret berührbar zu erzählen, ob Tier oder Mensch, alles ist für sie wertvolles Leben.
Ihre Beschreibungen der Fjorde und zahlreichen Fjells sind zeitlos wie ihre Sprache. Wasser und Wälder, Gebirge und Dörfer, Hundeschlitten, die „wie Aktentaschen unterm Arm“ getragen werden und die sympathische Schlittenmanie der Norweger aufzeigen, werden von ihr geradezu übermütig in Augenschein genommen. Von der Sonne des Nordens ist sie besonders fasziniert, von der es heißt, sie sei „sehr hell, wie das Auge eines fiebrigen Kranken“.
Während sie durch Schnee und Wind eilt und die „Einöde auf Erden und Einöde am Himmel“ betrachtet, zeigt sich ihr oftmals ein prächtiges Farbenspiel in der „Totenstille“: „… und plötzlich ist mir so“, notiert Sekulić, einen Arzt zitierend, der zu seinen weitverstreuten Patienten durch die Lande reist, „als hätte ich das Haus verloren, in dem ich lebe, dass ich kein Zuhause habe, und ich irre umher und suche nach Menschen …“
Dieses nomadische Momentum in der menschlichen Existenz ist es, das Sekulić unbändig frei erkennen und sehen lässt, denn niemand von uns, scheint sie stündlich in der Kälte des Nordens zu erspüren, ist etwas anderes als ein wanderndes Wesen.
Der Kälte wacker trotzend zieht sie weiter von einem zum anderen Menschen, von Einöde zu Einöde und von einer Hochebene zur nächsten. Da der Himmel für sie im Norden nie schläft, spürt sie den lebendigen Farben der Erde nach und beschreibt die „Licht- und Farbmysterien“ geradezu hingebungsvoll: „Goldene und purpurne Vorhänge verbergen das Erlöschen des Tages.“ Und: „Immer brennt, glimmt, entflammt, erlischt etwas.“
Ihre Sätze wirken dabei lange nach, wie etwa jene von den hellen Wolkenstreifen am Himmel, die ihr „aufgereiht und spitz wie Engelsflügel auf französischen Gemälden des 16. Jahrhunderts“ erscheinen. Immer wieder bringt sie Wahrnehmung und Innenwelt des Menschen zusammen. Norwegen ist ihr dabei das, was für den heutigen Kinogeher wohl die weiße Leinwand sein dürfte, eine Übertragungsfläche, an der sich ihr Sehen entzündet. Das einst karge und weitgehend einsame Land hilft ihr, zu den inneren Farben des Menschen, aber auch zu seinen sozialen Fähigkeiten vorzudringen. So heißt es an einer Stelle über die Norweger, von denen sie sagt, sie hätten das Gemeinschaftliche verinnerlicht: „… dass alles, was sie unternehmen und tun, sie in ein Verhältnis zu den anderen setzt. Von jedem Fortschritt, von jeder Freude kommt ein Teil allen zu.“
Diese „Kommunikation der Menschheit“ ist ihr eigentliches Thema. Die Kommunikation der Güte wirke in Norwegen fortwährend. Sie sei eine Tatsache, Natur, Moral, Religion und Erziehung in einem.
Wenn man sich wie Isidora Sekulić auf die Natur als Lehrmeisterin einlässt, kommt dabei nicht nur etwas Fortschrittliches, sondern vor allem etwas die Zeiten Überdauerndes zustande. Diese Reisetexte sind nicht nur die Essenz eines selbstermächtigten Gehens, sondern auch eines Intellekts, der in seinem Kern supranational ist.
Isidora Sekulić: „Briefe aus Norwegen. Aus dem Serbischen übersetzt, mit einem Nachwort versehen und herausgegeben von Tatjana Petzer. Titelgestaltung nach einem Holzschnitt von Christian Thanhäuser. Friedenauer Presse, Berlin 2019, 112 Seiten, 32 Euro
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