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: Deutschland ist kein Vorbild

Korea erhofft sich von Japan eine andere Erinnerungspolitik. Aber das Lob auf den Entschuldigungsweltmeister verstellt den Blick auf die hiesigen Defizite

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Gabriel Dae-In Lux,

geboren in Berlin, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Institut für Koreastudien der Freien Universität Berlin. Er promoviert zum Thema Nationalismus und Wieder­vereinigungskonzepte in Nordkorea.

Seit vielen Jahren herrscht in Südkorea großer Unmut über Japans mangelnde Bereitschaft, seine brutale koloniale Vergangenheit ernsthaft und kritisch aufzuarbeiten. Die ältere Generation Japans vertritt die Meinung, die Kolonialisierung Koreas und weiterer Gebiete Ostasiens hätte die Modernisierung der Region ermöglicht, während sich die japanische Jugend oft unwissend über die eigene dunkle Geschichte zeigt.

Der wohl bekannteste Streitpunkt betrifft die teils minderjährigen Sexsklavinnen – eher unter dem euphemistischen Begriff „Trostfrauen“ bekannt – aus Korea und anderen besetzten Ländern, welche das faschistische Kaiserreich Japan unter falschen Vorwänden in Militärbordelle in den Kriegsgebieten zwang. Noch immer werden diese seitens der japanischen Regierung und japanischer Gerichte nicht als Sexsklavinnen, sondern als bezahlte Prostituierte betrachtet. Auch wird behauptet, dass gar nicht die damalige Kolonialregierung, sondern private Vermittler die Mädchen und Frauen „angeheuert“ haben sollen, womit die japanische Regierung versucht, sich aus der Verantwortung zu ziehen.

Ein weiterer Streitpunkt ist die Flagge der aufgehenden Sonne“, aus der Sicht der ehemaligen Kolonien ein Symbol des japanischen Imperialismus. Sie soll laut Beschluss des japanischen Organisationskomites bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio („Hoffnung erhellt unseren Weg“) gehisst werden. Viele Koreaner und andere Opfernationen empfinden die Nutzung der Flagge als Symbol der Unterdrückung und Verhöhnung der Opfer.

Die südkoreanischen Medien, Zivilgesellschaft und vereinzelte Politiker*innen kritisieren zu Recht Japans Umgang mit der kolonialen Vergangenheit zwischen Heroisierung und Verleugnung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Hierbei heißt es oft, Japan möge den Blick nach Deutschland werfen und von der deutschen Versöhnungspolitik und Vergangenheitsbewältigung, die sich vom japanischen Pendant drastisch unterscheide, lernen. Doch in Wahrheit lassen sich Gemeinsamkeiten beim Umgang mit der imperialistischen Vergangenheit Deutschlands und Japans identifizieren.

So wie die Bundesregierung auf den 2+4-Vertrag – den Vertrag zwischen den ehemaligen Alliierten, der Bundesrepublik und der DDR von 1990 – verweist, um ihre Entschädigungsleistung als abgeschlossen zu bewerten, zitiert Japan den Normalisierungsvertrag, der 1965 zwischen der Regierung Japans und dem südkoreanischen Diktator Park Chunghee ausgehandelt wurde. Im Rahmen dieses Vertrags wurden Kredite und Finanzhilfen im Wert von 800 Millionen Dollar an Südkorea erstattet, wovon jedoch die Opfer selbst nichts erhielten. Deutschland und Japan befürchten jeweils einen Präzedenzfall, welcher das Tor für weitere Forderungen aus anderen ehemals betroffenen Ländern öffnet.

Erinnerungspolitisch verhält sich Deutschland tatsächlich gegenteilig zu Japan. Die Bewältigung der NS-Verbrechen ist nicht nur ein wichtiger Bestandteil des Schulunterrichts, sondern lässt sich auch im Stadtbild und in vertrauensbildenden Gesten einiger Politiker*Innen erkennen. Eine wichtige Rolle bei der deutschen Erinnerungskultur spielt die Zivilgesellschaft, die nicht müde wird, die historische Verantwortung der Deutschen im Bewusstsein zu behalten. Eine solche präsente Zivilgesellschaft fehlt in Japan. Doch während sich die Bundesregierung um Versöhnung mit ihren europäischen Nachbarn bemüht, verschleiert sie gleichzeitig ihre koloniale Vergangenheit. Zwischen 1904 und 1908, als Japan sein imperialistisches Treiben voranbrachte, führte das Deutsche Reich einen Vernichtungskrieg im damaligen Deutsch-Südwestafrika. Bis zu 80 Prozent der Herero und die Hälfte der Nama wurden ausgerottet. Eine Entschuldigung für den Völkermord äußerte 2004 die damalige Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Heidemarie Wieczorek-Zeul. Doch erst seit 2015 wird der Begriff Völkermord offiziell von der Bundesregierung verwendet – ein Erfolg der kritischen Zivilgesellschaften Namibias und Deutschlands, die seit Jahren vergeblich für eine Entschädigung kämpfen. Als Folge des Völkermords – so der Sozialwissenschaftler und Kolonialismusforscher Reinhart Kößler – lebt die Urbevölkerung Namibias bis heute in bitterer Armut, während sich der Großteil des ehemaligen Landes der Herero und Nama im Besitz weißer Farmer befindet.

Die undifferenzierte Erhebung Deutschlands zum Vorbild versöhnlicher Politik durch Korea stört den Diskurs

Von Reparation will man aber weiterhin nichts wissen. Stattdessen leistet die Bundesregierung indirekte Wiedergutmachung in Form von Entwicklungshilfe und der Übergabe sterblicher Überreste. Auch japanische Politiker*innen entschuldigten sich für die Kolonialverbrechen in Korea, doch in Anbetracht der mangelnden Erinnerungskultur und der Ehrung von Kriegsverbrechern am Yasakuni-Schrein durch ranghohe Politiker zweifelt die koreanische Gesellschaft an der Glaubhaftigkeit. Ebenso wie Deutschland meidet Japan Reparationen und setzt stattdessen auf indirekte Wiedergutmachung, ohne die Betroffenen zu konsultieren.

Die undifferenzierte Erhebung Deutschlands zum Vorbild versöhnlicher Politik durch Korea stört den Diskurs. Solange sich Deutschland selbst als Entschuldigungsweltmeister sieht und internationale Stimmen diese Erzählung stützen, ist die Chance geschmälert, dass die Bundesregierung ihrer moralischen Verpflichtung als ehemalige Kolonialmacht nachkommt und über empathische Aussöhnungssymbolik hinausgehende Entschädigungszahlungen für die Hinterbliebenen veranlasst. Statt zu appellieren, dass Japan es Deutschland gleichtun solle, muss hinterfragt werden, warum es ehemaligen Kolonialmächten so leicht fällt, sich vor Reparationen und einer moralorientierten Versöhnungspolitik gegenüber ihren ehemaligen Kolonien zu drücken.