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Archiv-Artikel

Die Wüste verschluckt viele Geschichten

SPUREN IM SAND Zwei Galerien präsentieren zurzeit Werke des israelischen Künstlers Micha Ullman. Seine Skulpturen entwickeln das Bild einer Vergangenheit, die mit unscheinbaren Resten in die Gegenwart ragt

Was an Micha Ullman wie an seinen Skulpturen besticht, ist der unpathetische Habitus

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Könnten wir im Sand lesen, die Informationen des einzelnen Sandkorns entschlüsseln, wir würden viel erfahren über die Zeitalter der Erde: Geschichten von Gebirgen, die langsam kleingerieben werden, von tektonischen Verschiebungen und unterirdischen Lavaflüssen, von Wüstenwinden, Karawanen und verschwundenen Städten. Nein, lesen im Sand können wir zwar nicht, und doch stellt man sich solche weit ausholenden Geschichten vor angesichts der Bücher aus rostrotem Eisen und rostrotem Sand, die der Bildhauer Micha Ullman aufgeklappt und zugeschlagen nebeneinander auf einen Sockel in der Guardini Galerie gelegt hat.

Sprache, Schrift und Bücher sind Werkzeuge des Menschen. In den Sandbüchern von Micha Ullman aber nimmt womöglich die Geschichte der Menschheit nicht mehr als ein einziges Blatt ein in einem dicken Wälzer. Wie flüchtig das Menschengemachte ist, erzählt auf andere Weise auch eine Bodenzeichnung im großen Raum der Guardini-Galerie: Dort halten Spuren von rotem Sand die Umrisse von Blättern und Büchern fest, die einmal den Boden des ganzen Raums bedeckt haben, übereinandergeworfen, teils aufgefächert, ohne erkennbare Ordnung, wie ein Haufen mutwillig verklappter Bücher. Dass jetzt keine Seite und Zeile mehr zu lesen ist, nur noch der dazwischen gerieselte Sand, markiert einen großen Abstand von der Aktion der Buchauslese und Entwertung.

Diese „Schüttung“, wie Micha Ullman die Arbeit nennt, ist eine fragile Zeichnung, die Bestand nur hat für die Dauer der Ausstellung. Sie ist mit seiner unterirdischen Bibliothek verwandt, mit den leeren Bücherregalen, mit denen Micha Ullman auf dem Bebelplatz an die Literaturvernichtung durch die Nationalsozialisten erinnert, an die Bücherverbrennung auf diesem Platz am 10. Mai 1933, an die Ermordung und Vertreibung jüdischer Schriftsteller, an vernichtete und nie geschriebene Bücher.

Seit seiner Entstehung 1995 ist dieser so äußerst sachlich scheinende und doch viele Gefühle umschließende Ort des Gedenkens immer wieder von Interessen zur Vermarktung der Stadt überlagert worden. Eine Tiefgarage wurde darum gebaut, Kunsteislaufbahnen und Modeevents wälzen sich jedes Jahr darüber. Versammlungen bunter Bären haben die eigentliche Idee torpediert, dass auch die Leere und Offenheit des Platzes, die Zäsur in den Bewirtschaftung des öffentlichen Raumes, die Spiegelung des Himmels in der Glasplatte zu seiner Form des Gedenkens gehören. Gegen diese Eingriffe rechtlich zu klagen, haben viele Berliner Freunde dem Bildhauer aus Israel immer wieder nahegelegt. Wie oft er darauf verzichtet hat, kann man nachlesen in der Festschrift „Von einer Wand zur anderen“, die der Kunsthistoriker Matthias Flügge von der Guardini Galerie zusammen mit dem Galeristen Alexander Ochs anlässlich des siebzigsten Geburtstages des Bildhauers herausgeben hat.

Bei Alexander Ochs zeigt Ullman die Installation „Unten“, wieder aus rotem Eisen und rotem Sand. Dreieckige Flächen und vierkantige Stücke ragen schräg aus dem Fußboden auf, als wäre dieser ein Meer voller Treibgut, mit Tischen und Stühlen, die kopfüber, kopfunter in den Wellen schaukeln. Wer auf diesen Stühlen saß, wer an diesen Tischen schrieb und aß, ist fort und vergessen. Es ist eine wehmütige Installation, in den Mitteln reduziert und sparsam, doch voll von potenziellen Geschichten.

Dabei muss es nicht einmal sein, dass dem Untergang, zwischen dessen Artefakten man herumläuft, eine Katastrophe oder ein Verbrechen vorausging. Man denkt bei dem Bildhauer, der aus Israel stammt, Sohn einer 1933 nach Tel Aviv emigrierten Familie, den Holocaust zwar oft mit – aber seine Werke behaupten das nicht unbedingt. Sie fassen das Bild einer Vergangenheit, die mit unscheinbaren Resten in die Gegenwart ragt, viel universeller. Selbst die Wüste und das Meer werden bei ihm zu Orten, die viele Geheimnisse bergen, viele Geschichten verschluckt haben.

Was an Micha Ullman selbst ebenso wie an seinen Skulpturen besticht, ist der gänzlich unpathetische Habitus. Ein Film in der Guardini Galerie zeigt ihn beim Besuch seiner Skulpturen in Berlin. Er räumt den Müll aus einer Schale von „Niemand“, einem verschlossenen Eisenhaus gegenüber dem Jüdischen Museum, und betrachtet die Graffiti auf den Wänden. „Das ist ganz sympathisch“, sagt er tatsächlich, „von außen kommen eben immer Eingriffe“. Deshalb gehe es ja gerade in seinen Skulpturen darum, einen geschützten und unerreichbaren Raum im Inneren zu schaffen. Dieser innere Ort ist unberührbar, aber um den hohen Preis, dass man in ihn nicht hineinsehen kann.

■ Micha Ullman, „Unten“, Alexander Ochs Galleries, Sophienstr. 21, Di–Fr 10–18 Uhr, Sa 11–18 Uhr, bis 8. November

■ Micha Ullman, „Sandtag“, Guardini Galerie, Askanischer Platz 4, Di–Fr 14–19 Uhr, bis 13. November