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Archiv-Artikel

„Der Brutalism kollidiert mit dem Alltag“

ARCHITEKTUR „Militant Modernism“ nennt der britische Kritiker und Blogger Owen Hatherley seine Studie über die utopischen Entwürfe modernistischer britischer Architektur, die er auch in Film, Design und Pop wiederfindet

Owen Hatherley

■ Geboren und aufgewachsen in einer Hochhaussiedlung in der Hafenstadt Southampton untersucht der 28-jährige Londoner Autor und Blogger Owen Hatherley mit „Militant Modernism“ die weitgehend vergessene Geschichte modernistischer Architektur in Großbritannien.

■ In der britischen Nachkriegsmoderne wurden Gebäudekomplexe wie etwa das „Barbican Centre“ in London erbaut, deren schroffe Formen Hatherley als „Brutalism“-Stil bezeichnet. Wie er in seinem präzise formulierten Buch herausarbeitet, liegen dessen Ursprünge in den linken Avantgarden des 20. Jahrhunderts.

■ Hatherley macht nicht nur ein Stück Vergangenheit lebendig, in seinem Buch zieht er Querverbindungen von der Architektur über Film und Design zur Popmusik von heute.

Foto: N. Power

INTERVIEW JULIAN WEBER

taz: Owen Hatherley, Ihre Studie „Militant Modernism“ beschäftigt sich mit den utopischen Wurzeln des kommunalen britischen Wohnungsbaus. Ihr Impuls ist allerdings Popmusik. Was hat Architektur mit Pop zu tun?

Owen Hatherley: Worin sich der schroffe britische Modernismus ähnelt, will ich versuchen, anhand zweier Beispiele zu erklären. Nehmen Sie die Musik der Hardrockband Black Sabbath und den Bau der Stadtbibliothek von Birmingham. Es gibt kaum Black-Sabbath-Fans, die dieses brutalistische Bauwerk mögen. Dabei haben beide, Black Sabbath und die Bibliothek, ganz ähnliche ästhetische Prämissen: Sie wirken nach außen hin abweisend und verwenden die gleichen repetitiven Bauteile. Architektur wird nie gegenkulturell gelesen. Sie zählt nicht mal als Bestandteil der Alltagskultur.

Mein Interesse an Architektur wurde erst durch mein Interesse an Musik geweckt. Ich schreibe über Architektur, wie etwa Simon Reynolds und Jon Savage über Popmusik geschrieben haben: unmittelbar und möglichst nicht herablassend.

Ihre Studie ist eine implizite Kritik korporativer Weltarchitektur. Sie plädieren für regionale Unterschiede und Eigenheiten britischer Hochhäuser.

Bewusst habe ich genau jene Stilmerkmale des Modernismus untersucht, die nichts mit der Schule des International Style zu tun haben. Seine klaren Linien und weißen Flächen, die großen Fensterfronten beherrschen den Diskurs – von Mies Van der Rohe bis zu Norman Foster. Dagegen setze ich den modernistischen Stil namens Brutalism, der nichts mit den Stararchitekten zu tun hat. Brutalism ist eine sehr räumlich-präsente Architektur, die Antithese zu großen Fensterfronten und Transparenz, Dematerialisierungen und computergenerierten Fassaden.

Sir Norman Foster, einer der Apostel dieser Transparenz, verfolgt die fixe Idee, dass Bauten wie der Bundestag oder das Londoner Rathaus die Politik sichtbarer machen würden, wo diese Gebäude undurchlässig wirken. Mich interessiert modernistische Architektur gerade dann, wenn sie mit den Anforderungen des Alltags kollidiert. Diese Kollisionen werden in der Dynamik und der Räumlichkeit des Brutalism viel deutlicher.

Sie schreiben „Klasse und politische Bildung sind untrennbar damit verbunden, wie man ein modernistisches Gebäude wahrnimmt“. Gilt das auch für die Beurteilung von Popmusik?

Nicht in demselben Maße. Auch ein nichtspezialisiertes britisches Laienpublikum kann inzwischen kritisch über die radikalste Popmusik urteilen: Das Wissen über Pop ist verbreiteter als das Wissen über Architektur. Schauen Sie sich die Reaktionen auf Hochhäuser und Council-Estate-Siedlungen an. Die meisten Menschen empfinden Hochhäuser als unwirtlich. Das mag mit der großflächigen Betonbauweise zu tun haben, meistens aber liegt das an der sozialen Konnotation von Hochhäusern. Damit werden die Armen, die Verlierer der Gesellschaft, assoziiert; ergo gelten Hochhäuser als architektonischer Schandfleck. Dabei ist die Bausubstanz von Luxusapartments weit schlechter als die von kommunalen Wohnungsbauprojekten, sie gelten aber als architektonisch hochstehender, weil darin Börsenmakler leben.

Sie führen den Brutalism auf Ideen der russischen Konstruktivisten zurück. Wie kam dieser Connex zustande?

Das Verbindungsglied ist Berthold Lubetkin, ein Schüler Rodschenkos. Er brachte Ideen der russischen Revolution mit nach Großbritannien, wo er in den 1950ern und 1960ern als Architekt im städtischen Wohnungsbau tätig war. Sein wichtigstes Modell ist der soziale Kondensator. Das ist eine Antwort auf Fehlplanungen in modernistischen Gebäuden. Der soziale Kondensator weist ein Wohnhaus mit zahlreichen kommunalen Einrichtungen aus und beschränkt das Private auf ein Minimum. Das berühmteste Beispiel ist das Narcomfin-Gebäude in Moskau. Es besteht eigentlich aus aufeinanderliegenden Zweifamilienhäusern, die Gemeinschaftseinrichtungen sind in einem angrenzenden Gebäude untergebracht: Dort liegen Küchen neben Kindergartenräumen, neben einer Bibliothek.

In London hat Lubetkin das Finsbury Health Center geplant, allerdings wurden grundlegende Ideen nicht realisiert. Der britische Modernismus hat die Ideen der russischen Revolution zu wenig beherzigt.

Viele der von Ihnen beschriebenen Gebäude sind wieder abgerissen worden. Verteidigen Sie den Brutalism aus ästhetischen oder sozialpolitischen Gründen?

Radikale Ästhetik treibt radikale Politik voran. Natürlich gab es auch in den vergangenen 25 Jahren Beispiele für radikale Architektur in Großbritannien, gerade weil hier konservative Politik am Wirken ist. Das Lloyd’s Building in London hat in seiner Bauweise alle Arten von linken Architekturpositionen berücksichtigt. All das hindert das Lloyd’s Building nicht daran, ein Finanzgebäude zu sein.

Genügt linke Ästhetik als Mittel gegen rechte Politik?

Meine Argumentation zielt auf ein anderes großes Problem der Linken: die Fetischisierung der Vergangenheit. Wir werden besonders sentimental, wenn es um die präindustrialisierte Gesellschaft des 19. Jahrhunderts geht. Es ist wichtig, sich dieser Geschichte und ihrer historischen Niederlagen zu erinnern und damit auch ihrer spezifischen Ästhetik wie die von bärtigen Gewerkschaftsfunktionären.

Allerdings wirken diese auf jeden unter 50 altbacken. Ergo war meine Idee, mit der Feier des Brutalism eine Art Gegenästhetik der Linken aufzuziehen, die mehr mit Modernismus, Futurismus, einer neuen Gesellschaft zu tun hat als mit der Erinnerung an eine zerstörte Idylle.

Was haben der Komponist Hans Eisler und der Rapper Dizzee Rascal gemeinsam?

Beide machen kraftvolle Musik, die unmittelbar auf die Eingeweide zielt. Ich schreibe über Dizzee Rascal, weil ich anhand seiner Musik der Kritik vorbeugen kann, Normalbürger hätten an Modernismus kein Interesse. In London hören viele junge Menschen unglaublich seltsame moderne Musik. Seit den 1950er-Jahren sind britische Jugendliche mit Working-Class-Hintergrund dem Modernismus und Futurismus gegenüber positiv eingestellt.

Pop ist etwas, was sie selbst kreieren können. 17-jährige Council-Flat-Bewohner können zwar kein eigenes Gebäude entwerfen, aber einen eigenen Track produzieren. „Proletkult“, wie ihn Brecht und Eisler formulierten, ist heute viel sinnvoller als in den 1920er-Jahren. Lenin hat die Idee einer proletarischen Kunst immer abgelehnt, aber seit den 1950er-Jahren ist eine Menge an proletarischer Avantgarde entstanden, hauptsächlich im Popkontext.

Owen Hatherley: „Militant Modernism“. Zero Books, Winchester 2009, 146 S., 13 Euro