piwik no script img

heute in bremen„Psychiatrie-Aufenthalt erhöht das Sterberisiko“

Foto: privat

Julia Benz,

32, Kunsttherapeutin, ist Patientenfürsprecherin in der Forensik und Mitglied der psychiatriekritischen Gruppe Bremen.

Interview Eiken Bruhn

taz: Frau Benz, was wollen Sie mit dem heutigen Gedenktag der Psychiatrietoten erreichen?

Julia Benz: Es gibt kaum ein öffentliches Bewusstsein dafür, wie viele Menschen im Kontext der Psychiatrie sterben, deshalb veröffentlichen wir diese Liste, auf der wir alle uns bekannten Fälle sammeln.

Woran sterben die Menschen?

Sie sterben, weil sie falsch oder zwangsbehandelt werden, viele bringen sich nach dem Aufenthalt in der Psychiatrie um, auch als Folge von Medikamenteneinnahme. Das Risiko, nach einem solchen Aufenthalt einen Suizid zu begehen, ist sehr hoch.

Aber der Zusammenhang lässt sich schlecht belegen – es ist möglich, dass sich viele ohnehin umgebracht hätten.

Ja, das ist tatsächlich schwer nachweisbar. Statistiken dazu werden nicht mehr veröffentlicht, Ergebnisse der Pharma-Lobby stehen über den Stimmen von Erfahrenen und von kritischen Ärzt*innen. Die Pharma-Lobby verhindert auch, dass darüber aufgeklärt wird, dass Psychopharmaka wegen ihrer Nebenwirkungen die Lebenszeit drastisch verkürzen können.

Andererseits gibt es Menschen, die nehmen Psychopharmaka im vollen Bewusstsein, dass sie wahrscheinlich davon Krebs bekommen werden, sagen aber, das sei besser, als sich sofort umzubringen.

Wenn sie das freiwillig machen, ist das in Ordnung. Es gibt aber viele, die zwangsbehandelt werden, gegen ihren Willen Medikamente bekommen. Und daraus können Traumata entstehen, die nicht überwunden werden – das wissen wir aus vielen Abschiedsbriefen.

Wollen Sie die stationäre Akut-Psychia­trie ganz abschaffen?

Ja. Es gibt dort viel zu wenig Raum für die Gründe, warum jemand psychisch krank geworden ist.

Das ist aber auch nicht der Auftrag der Psychiatrie.

Aber es macht die Leute ja auch nicht gesund, wenn sie mit vielen Menschen auf engem Raum zusammen sind, denen es zum Teil sehr, sehr schlecht geht und wenn die alle mit Medikamenten ruhig gestellt werden. Und wenn sie dann entlassen werden, gibt es keinen Ort, der sie auffängt, an dem sie einfach sein können. Das führt dann zum Drehtür-Effekt, raus aus der Psychiatrie, wieder rein in die Psychiatrie.

Was bräuchte es für Orte?

Räume, wo jemand einfach in Ruhe sein kann.

Aber es gibt doch die Bestrebungen in Bremen, die Versorgung zu dezentralisieren und auf ambulante Behandlungen zu setzen.

Ja, aber das läuft alles über Diagnosen. Und wer einmal zum Beispiel als suizidgefährdet diagnostiziert wurde, kann sehr schnell wieder eingewiesen werden. Es braucht unabhängige Orte ohne Zwänge.

Demonstration: 18 Uhr, Hauptbahnhof, 19 Uhr, Lichtergedenken am Marktplatz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen