: Hillas Legenden
BUNDESREPUBLIK Nach der Kindheit in den Fünfzigern nun das Aufbegehren in den Sixties: Ulla Hahns Roman „Aufbruch“
Eine Fortsetzung also. Die Geschichte von Hildegard Palm, Arbeiterkind aus rheinisch-katholischer Enge, hochbegabt, zu Größerem geboren, wird weitererzählt. 2001 war „Das verborgene Wort“ erschienen: eine Kindheit in den 50er- und früher 60er-Jahren. Eine Emanzipationsgeschichte eines Mädchens, das sich nicht fügen will – weder in die soziale noch in die sexuelle Unterdrückung. Keine ganz neue Geschichte vielleicht, aber doch eine, die zu über 500.000 verkauften Exemplaren führte. Ein Erfolg. Kein Wunder, dass Ulla Hahn daran anknüpfen will.
Aus der klugen kleinen Hilla Palm, der Bürokraft wider Willen, ist in der Fortsetzung „Aufbruch“ eine 17-jährige Aufbauschülerin geworden. Als Kind hatte Hilla immer an Wut- und Lachsteinen ihre Launen ausgelebt, jetzt begehrt sie ein Geologiestudent. Wie passend. Sie wird – unschuldig in einer Buchhandlung herumstehend – von einem Kakao-Erben umworben und zum Champagnertrinken entführt. Aber Hilla Palms Traum ist weiterhin nicht die materielle, sondern die geistige Freiheit, die jetzt, wo sie älter ist, ein Studium bedeutet. Und während der nächste reiche Verehrer, diesmal der Sohn eines Zahnarzts, sich um sie bemüht, denkt Hilla lieber an Wagner und seine Bedeutung für die Ideologie des Nationalsozialismus. Am Ende landet „dat Heeldejaad“ im Studentenwohnheim in Köln.
Noch stärker als im „Verborgenen Wort“ setzt Ulla Hahn ihre Heldin nun in den zeitgenössischen Kontext. Ganz Musterschülerin, arbeitet sich Hilla durch den kulturellen und geistesgeschichtlichen Alltag ihrer Zeit. Sie sitzt in der Milchbar und trinkt Cola, geht auf Partys, bei denen die Beatles aufgelegt werden, und diskutiert mit den aufgeschlossenen Lehrern über den Auschwitzprozess. Doch anders als im Vorgängerroman, in dem eine sich wehrende Hilla von dem Dorfkatholizismus um sie herum fast erdrückt wurde, ist sie diesmal eine seltsam unberührte Zeitzeugin. Von aufbrechender sexueller Revolution ist nichts zu spüren, Hilla zitiert während ihrer Verabredungen im Geiste Benimmfibeln. Auch die Aufarbeitung der Nazivergangenheit ihres Umfelds geht erstaunlich glatt ab: Wie sich herausstellt, hat ihre Familie sogar Juden versteckt.
Die recht offensichtliche Nähe der Autorin Ulla Hahn zu ihrer Figur Hilla Palm ließ schon in „Das verborgene Wort“ vermuten, dass hier jemand an seiner eigenen Heiligenlegende arbeitete. Über die autohagiografischen Ambitionen der Autorin tröstete da aber noch die sprachlich so gelungene Milieuschilderung hinweg. Der Großvater, der mit seinen Geschichten die Fantasie des Kindes beflügelt, die Mutter, deren starre Welt einem die Kleinheit der jungen Bundesrepublik verdeutlicht, die Großmutter, deren Glaube alles andere erstickt. Das Gefühl, aus einer Familie zu stammen, die einen nicht verdient hat, wird so manche Leserin mit dem oft allzu platten pädagogischen Ton des Romans versöhnt haben.
Diese Nebenfiguren finden sich im „Aufbruch“ nicht mehr so recht wieder. Und die Erzählweise von Ulla Hahn, die zuvor noch – ähnlich wie in ihren Gedichten – durch diese schwermütige Leichtigkeit bestach, kippt allzu oft ins Überbemühte oder ins Platte, bei den Liebesszenen sogar Arztromanhafte.
Ulla Hahn stellt ihren Lesern bereits einen dritten Teil von Hildegard Palms in Aussicht. Nach dem Gesetz der Mädchenromanserie müsste Hilla dann heiraten und trotzdem einem Beruf nachgehen. Mal gucken. JUDITH LUIG
■ Ulla Hahn: „Aufbruch“. Deutsche Verlagsanstalt, München 2009, 587 Seiten, 24,95 Euro