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Die Loser von Lothringen

Jugend, Provinz, prekäre Welten: Dem französischen Autor Nicolas Mathieu gelingt es in seinem Roman „Wie später ihre Kinder“, in einer Coming-of-Age-Geschichte von der Spaltung der Gesellschaft zu erzählen

Von Fokke Joel

Es ist kein Zufall, dass Nicolas Mathieus Roman „Wie später ihre Kinder“ im Sommer spielt. Der blaue Himmel, der Sonnenschein steht im bewussten Gegensatz zu der Trostlosigkeit von Heillange, einer kleinen fiktiven Stadt in Lothringen. Hier gab es mal ein großes Stahlwerk, das im Sommer 1992, in dem der Roman beginnt, nur noch eine Ruine ist. Gegensätzlich ist auch die Welt von Anthony und Hacine, den beiden Hauptprotagonisten des Romans, die in den prekär gewordenen Verhältnissen der Arbeiterfamilien leben, und die Welt von Stephanie und Clémence, die in behüteten Familien aufwachsen. Ihre Eltern haben es geschafft und gehören zum gehobenen Mittelstand.

Anthony ist vierzehn. Die Pubertät hat ihn voll erwischt. Mit seinem älteren Cousin zieht er durch die Hitze der Stadt. Am See klauen sie ein Kanu, werden entdeckt und flüchten ans andere Ufer. Dort treffen sie auf eine Gruppe Jugendlicher, die sie vom Sehen kennen, unter ihnen auch Stephanie und Clémence. Die haben aber keine Lust auf die beiden aus den „Loser“-Familien. Die Situation droht zu eskalieren. Bis Anthonys Cousin, der sich sein Taschengeld mit dem Verkauf von Drogen aufbessert, den anderen einen Joint anbietet. Plötzlich hat man etwas gemeinsam – die Jugend, den pubertären Überdruss – und sitzt bekifft kichernd am Ufer. Am Ende werden Anthony und sein Cousin von dem Sohn eines Arztes sogar zur abendlichen Gartenfete eingeladen.

Soundtrack: Nirvana

„Smells like teen spirit“ von Nirvana heißt der Hit des Sommers. Es ist auch der Titel des ersten der vier, jeweils im Abstand von zwei Jahren spielenden Abschnitte des Romans. „Load up on guns, bring your friends“, heißt es in dem Song. „I feel stupid and contagious.“ Auch Anthonys Leben ist von erotischer Spannung, Schüchternheit und Gewalt geprägt. Und natürlich Drogen. Er verliebt sich am See in Stephanie, aber er wagt sie nicht anzusprechen. Auch auf der Fete abends, zu der er und sein Cousin mit dem heimlich geliehenen Motorrad von Anthonys Vater fahren, reden die beiden nur kurz miteinander. Anthony hat zu schnell zu viel getrunken und kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Und dann taucht auch noch Hacine auf und droht die Party zu sprengen. Den Sohn eines marokkanischen Migranten will hier niemand. Aus Rache, wieder mal nicht dazugehören zu dürfen, klaut er das Motorrad – das Heiligtum von Anthonys gewalttätigem Vater.

Nicolas Mathieu: „Wie später ihre Kinder“, aus dem Frz. von Lena Müller, André Hansen. Hanser Berlin, München 2019. 448 S., 24 Euro

Das geklaute Motorrad, die unerreichbare Stephanie und die Ablehnung von Hacine – dies alles wird zum Motor der Erzählung. Geschickt erzeugt Mathieu, der vergangenes Jahr für „Wie später ihre Kinder“ den Prix Goncourt gewonnen hat, erzählerisch im Leser Befürchtungen. Um sie kurz darauf zu bestätigen oder in einer positiven Wendung auslaufen zu lassen. So ist Anthony sich sicher, dass Hacine das Motorrad geklaut hat. Ständig erwartet man den Showdown der beiden, immer wieder geht die Geschichte anders weiter. Zusammen mit der erotischen Spannung, den kurzen, oft apodiktischen „So ist es“-Sätzen und der einnehmenden Atmosphäre wird „Wie später ihre Kinder“ zum Pageturner. Ein Pageturner, der die Wirklichkeit seiner Protagonisten mit all ihren Hoffnungen, Widersprüchen und Enttäuschungen überzeugend erzählt.

Virginie Despentes, eine der Jurorinnen des Prix Goncourt, sieht Nicolas Mathieus Roman in der Tradition des Naturalismus von Émile Zola. Bereits das Motto des Buches von Jesus Sirach, einem apokryphen Bibel-Autor, weist in diese Richtung: „Sie sind gestorben und vergessen, wie später ihre Kinder.“ Wie Zola will Nicolas Mathieu vom ganzen Leben erzählen, auch von denen, die keine Stimme haben, die die Geschichte vergisst. Dabei erzählt er seine Figuren von innen heraus. Denn obwohl der Plot für den Roman eine wichtige Rolle spielt, sind ihm die Protagonisten nie untergeordnet. Das gilt vor allem für die Hauptfiguren Anthony und Hacine, aber auch für die meisten Nebenfiguren, von denen Mathieu lebendig, mit all ihren Widersprüchen erzählt.

Man kann diesen Roman aufgrund des Milieus, das er beschreibt, durchaus auch auf die französische Gelbwesten-Bewegung beziehen. Anthonys Vater hat – wie fast alle Väter in Heillange – im Stahlwerk gearbeitet. Auch der Vater von Hacine musste dort jahrzehntelang schuften, bis die Globalisierung dem Werk den Garaus machte. Die Identität als „Arbeiter“ verbindet autochthone Franzosen und Migranten. Auf der Beerdigungsfeier eines populären Gewerkschaftsführers, auf der sich die beiden Gruppen nach Jahren wieder begegnen, werden die Migranten herzlich begrüßt. Am Ende jedoch setzen sie sich an einen von den anderen getrennten Tisch.

Der Autor gibt jenen eine Stimme, die die Geschichte vergisst

Kinder des Proletariats

Gleichzeitig wissen alle, dass der klassische Arbeiter der Vergangenheit angehört. „Seit die Fabriken dichtgemacht hatten“, heißt es, „waren die Arbeiter in alle Winde zerstreut. Zum Teufel mit den Massen und Kollektiven. Jetzt kam die Zeit des Individuums, der Leiharbeit, der Vereinzelung.“ Es sind die Kinder dieses ehemaligen Proletariats, die es nicht zum Studium nach Paris geschafft haben, die heute in Frankreich auf die Straße gehen. Kinder von Vätern wie der Anthonys, der sich von Job zu Job hangelt, trinkt und seinen Sohn und seine Frau verprügelt. Oder wie Hacines Vater, der mit stoischer Autorität in seiner Sozialwohnung residiert und seinen Sohn, als der kriminell wird, zurück nach Marokko schickt, wo er wieder auf den rechten Weg zurückfinden soll. Stattdessen macht er dort eine Karriere als Drogendealer.

Überzeugend erzählt Nicolas Mathieu in seinem Coming-of-Age-Roman von der Spaltung der französischen Gesellschaft. Auf der einen Seite stehen die, die es geschafft haben, die studieren und Karriere machen; auf der anderen die, die es nie schaffen werden, die sich in der Provinz mit prekären Jobs über Wasser halten müssen. Die keine Stimme haben, die die Geschichte vergisst. Da ist das schöne Wetter über dem Tal der Stadt genauso eine Illusion wie am Ende die Fußballweltmeisterschaft 1998, bei der sich alle in den Armen liegen und gleich scheinen in ihrer Begeisterung für „Les Bleus“.

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