Amputiert und in Panik

Was den Mann zum Mann macht (und was ist, wenn er in die Krise gerät, der Mann): Zum Auftakt der Opernsaison inszeniert Karin Beier Schostakowitschs „Die Nase“

Plötzlich ein bestaunter Außenseiter: Kowaljow (Bo Skovhus), erlebt den Nasen- Verlust als existenzielle Krise Foto: Fotos (2): Markus Scholz/dpa

Von Jens Fischer

Dabei kann schon mal ein Missgeschick passieren: Als Dmitri Schostakowitschs wuchtig hämmernde Rhythmen ins Ohr tosen und krachen, verliert der Barbier seinen eleganten Rasierschwung. Schwupps! Wo eben noch die Nase des Kunden Platon Kusmitsch Kowaljow prangte – Namensgeberin für die erste Oper des Komponisten – klafft nun eine fleischige Wunde; die Kostümbildnerei der Staatsoper in Hamburg hat sie als Schweineschnute gestaltet, mitsamt Steckdosenlöchern. Nase weg, großer Aufschrei, vom Staatsorchester so farben- wie facettenreich unterstützt: Wohlgeordnet tobt es durch das avantgardistische Notenmosaik, einem Ausdruck der wilden 20er-Jahre in Russland.

Umso kleiner wirkt der dänische Bariton Bo Skovhus als Kowaljow im Sturm der klingenden Extravaganzen – und dem pompösen Überwachungsstaat-Bühnenambiente von Stéphane Laimé. Eine gar nicht komische Erfahrung ist das für diesen Kowaljow: plötzlich Außenseiter. Geradezu existenziell bedroht fühlt er sich. Menschen bespotten, bestaunen ihn als Freak.

Panisch flüchtet er zum Rhinoplastiker, der allerdings die schönheitschirurgische Reparatur verweigert. Auch die Polizei versucht er anzusetzen auf das vermisste Stück Gesicht: Ohne Nase, singt er, sei ein Mann kein richtiger Mann. Das charakteristische Organ im Zentrum des Antlitzes ist nicht nur zum Riechen da, sondern auch Symbol für physische Kraft und, ja: sexuelle Potenz.

Überrundeter Antiheld

Die plötzliche Nasenlosigkeit schmerzt den Antihelden umso mehr, als er sich gerade erst wacker aufgemacht hatte, endlich eine Frau an seiner Seite zu halten und die nächste bürokratische Karrierestufe zu erklimmen. Voran kommt nun aber der entfleuchte Gesichtserker: Rast erst noch mit einem ferngesteuerten Auto über die Bühne, entzückt aber bald, zu menschlicher Größe erwachsen, mit den trippelnden Beinen eines Tänzers Russlands Nomenklatura und einfache Bürger. Nase wird Superstar und bald zum Staatsrat erkoren, während Kowaljow weiter als Kollegienassessor seinen Schreibtisch beackert.

Jenseits der Karikatur verdeutlicht Skovhus mit sängerisch wie darstellerisch enormer Ausdruckspalette den Wandel vom optimistischen Spießer zum panisch Amputierten und immer einsamer werdenden Jedermann. An die 80 weiteren Rollen bringt das Ensemble satirisch auf den Punkt.

Regisseurin Karin Beier, nach fast anderthalb Jahrzehnten wieder einmal eine Oper inszenierend, setzt durchaus auf krassen Witz, macht aus Gogols Stoff zu Schostakowitschs Musik die Groteske einer inhumanen, gesichtslosen Gemeinschaft im Angstmodus. Lässt ihr gar von einer Hitler-Figur Homöopathie als Heilmittel vorschlagen. Vor allem aber seziert sie die absurden Mechanismen autoritärer Strukturen, bezieht auch die Entstehungszeit der 1930 uraufgeführten Oper mit ein – und denkt sie weiter bis ins Jetzt.

Grundgefühl des Abends ist Verunsicherung. Die Roten Fähnchen einstigen Aufbruchs übersäen den Boden, der Sternenhimmel blinkt kaum mehr sehnsuchtskitzelnd aus dem Bühnenhintergrund. Nachgefragt scheinen längst Führungspersönlichkeiten, genauer: diktatorische Mannsbilder. Für die narrisch duckmäusernden Folgenden findet Eva Dessecker die passende Kostümierung: Sie macht „das Volk“ in Fatsuits schäbig nackt – lächerlich.

So entbieten sie den Stalin-, nein, Hitlergruß. Soldaten exerzieren wie Marionetten, Polizisten wackeln mit aufgeplusterten Hinterteilen und Schauspielgast Kristof Van Boven, bis 2018 Ensemblemitglied am örtlichen Thalia-Theater, liefert ein furioses König-Ubu-Solo ab: Mit militärischem Goldschmuck behängt, niest er ein Dada-oem ins Mikro. Und leiht anschließend dem gärenden Populismus Worte: Als Schuldige für die Schieflage der Nation gesucht werden, kommt er mit Verschwörungstheorien daher – etwa der von der CIA, die in der nahen Binnenalster einen U-Boot-Hafen angelegt habe. Oder so ähnlich. Als Kowaljow seinen Zinken per Zeitungsaufruf suchen lassen will, wird ihm das verwehrt – mit dem Hinweis, man wolle nicht weiter in Fake-News-Debatten verwickelt werden; derart beschwingt modernisiert Ulrich Lenz’Übersetzung von Nikolai Gogols Stoff.

Höchst aktuell wirkt auch, wie die dünkelhaften Kleingeister zum wütenden Mob mutieren, der nicht mal vor Vergewaltigung zurückschreckt. Zu einer instrumentalen, aufgeputschten Passage irren schließlich Nase und ihr Ex-Besitzer durchs nächtlich videogefilmte Hamburg, im Gegenschnitt formieren sich geballt Volkszorn und Polizeimacht – wenn sie von dort kommen, hat der G20-Gipfel 2017 diese Aufnahmen mindestens inspiriert.

Staatsrat und Superstar: Bernhard Berchtold als Nase, hier schon menschengroß

Nie also lässt Beier das Stück, wie im Textbuch vermerkt, „um 1870“ spielen, also in der Zarenzeit, sondern heute – und gestern in der Sowjetunion zu Schostakowitschs Zeiten. Vertreter der Staatsmacht ist ein Sänger mit, dann doch: Stalin-Maske auf. Der reale Diktator ini­tiierte seinerzeit einen „Chaos statt Musik“ überschriebenen Hetzartikel gegen Schostakowitschs zweite Oper, „Lady Macbeth von Minsk“; Stalin dürfte auch dazu beigetragen haben, dass über „Die Nase“ geurteilt wurde, es handele sich um „Dekadenz“ und Ausdruck des „Formalismus“ gegen die Ideale des sozialistischen Realismus. Die Leningrader Uraufführungsinszenierung wurde nach 16 Abenden abgesetzt. Beier reißt das alles an, und das sehr geschickt – aber die Assoziationen werden kaum zusammengeführt oder weiterentwickelt. Sie bleiben inhaltlich wie ästhetisch ohne Konsequenzen für die handwerklich vielleicht etwas arg souveräne Inszenierung der politischen Spaltung einer Gesellschaft.

Surfendes Orchester

Musikalisch ist der Abend aber ein Fest: Hamburgs Generalmusikdirektor Kent Nagano setzt mit dem Orchester treffsichere Effekte, es surft auf der inneren Dynamik, durchleuchtet die schillernd polystilistische Partitur auf Scherz, Ironie sowie tiefere Bedeutung, bringt sie mit allen Ecken und Kanten zur Geltung. Dabei kosten die Musiker Geräuschhaftes ebenso eloquent aus wie Lautmalereien: Schreie, Rülpser, Flatulenzen.

Ruhe kehrt nicht mal zum Finale ein: In Kowaljows Gesicht hat sich zwar alles wieder normalisiert, die Nase ist wieder da – aber für ihn nichts, wie es war. Nie wird es ihm gelingen, seine Verlustängste und Minderwertigkeitskomplexe, Verfolgungspanik und Potenzprobleme zu verdrängen.

Nächste Vorstellungen: heute, 23. + 26. 9., jeweils 19.30 Uhr; 28. 9., 19 Uhr, Hamburg, Staatsoper