: Mehr als nur Özil
In der Berlin-Liga treten in dieser Saison vier Klubs mit Türkeibezug an. Wo Herkunft und Identität früher wichtig waren, verstehen sich die Vereine heute vor allem als berlinerisch
Von Dénes Jäger
Bei diesem Derby an einem Augustabend fühlt man sich fast an die goldenen Tage Anfang der 90er erinnert, als Tausende ins Kreuzberger Katzbachstadion pilgerten, um Türkiyemspor Berlin zu unterstützen. Damals spielte das Team um den Aufstieg in die zweite Liga und „Türkiyem“, wie der Klub auch genannt wird, war ein bundesweites Aushängeschild für die türkeistämmige Community.
Die Zeiten haben sich geändert: Heute ist der Verein in der sechsten Liga angekommen und eröffnet mit dem Spiel gegen Hilalspor die Saison – vor ein paar Hundert Zuschauern. Zwar lässt sich das Geschehen auf dem Rasen als ziemlich ereignisloses Gekicke zusammenfassen, aber es geht hier um mehr: Auf den Rängen wird ein wilder Mix aus Türkisch und Berlinerisch gesprochen, viel geraucht und gescherzt. Vorletzte Saison, als es zwischen Hilalspor und Türkiyemspor um den Aufstieg ging, gab es das Duell schon einmal, damals behielt Türkiyemspor die Oberhand. Dieses Jahr folgten ihnen die Nachbarn von Hilalspor in die Berlin-Liga.
Die Berlin-Liga ist die höchste Liga Berlins. Sie bedient einerseits die Fantasien von Fußballromantikern: Rasenplätze, eingepfercht zwischen Wohnblöcken in Steglitz oder ausladend vor Industriekulisse an der Sonnenallee, dazu Bratwurst im Fladenbrot, Bier oder türkischen Tee am Büdchen. Andererseits macht die Professionalisierung des Fußballs auch vor der Berliner Meisterschaft keinen Halt. Vereine locken höherklassige Spieler mit Prämien, die von windigen Investoren für den kurzfristigen Erfolg bereitgestellt werden. Nicht selten wird zur neuen Saison die komplette Mannschaft ausgetauscht.
Zum ersten Mal seit ihrem Bestehen starten in diesem Jahr vier Mannschaften mit Türkeibezug in der Liga: Neben Hilalspor und Türkiyemspor komplettieren Al-Dersimspor, ebenfalls aus Kreuzberg und Türkspor aus Charlottenburg das Quartett.
„Durch Hilalspors Aufstieg gibt es dieses Jahr erstmals zwölf Derbys, da wird es heiß hergehen“, sagt Mehmet Matur schmunzelnd. Er ist so etwas wie die gute Seele des Berliner Fußballs mit Türkeibezug. Er war jahrelang in diversen Positionen bei Türkiyemspor tätig, sein Bruder Durmuş ist aktuell erster Vorsitzender des Vereins. Seit 2005 ist Mehmet Matur als Präsidiumsmitglied im Berliner Fußball Verband (BFV) für Integrationsfragen zuständig.
Das bedeutet ständigen Austausch mit den vielen migrantischen Vereinen der Stadt: In der Berlin-Liga ist der SD Croatia eine feste Größe, eine Liga tiefer spielen der serbischstämmige Verein 1. FC Novi Pazar oder der von aramäischen Einwanderern gegründete BFC Tur Abdin. Aber es gibt auch migrantische Vereine, die nicht mehr als solche wahrgenommen werden wollen. „Einige Mannschaften haben zuletzt ihre Namen geändert“, sagt Matur, „Galatasaray Berlin heißt jetzt SV Rixdorf.“ Das sei als Öffnung zu verstehen, aber auch für die finanzielle Unterstützung von Bedeutung: „Wenn du Türkiyemspor heißt, beschränken sich in der Regel auch deine Sponsoren auf Firmen mit türkischem Bezug.“
Hinzu kommen Vorbehalte, denen sich viele Vereine ausgesetzt sehen. „Ein türkischer Name wirkt als Mobilisierung für die eigene Gruppe, hat aber nach außen oft eine abschreckende Wirkung“, unterstreicht der Politikwissenschaftler Stefan Metzger. Er hat in seiner Dissertation zu Vereinen mit Türkeibezug in Berlin geforscht und über Jahre Interviews mit Vereinsvorständen, Spielern und Verbandsfunktionären geführt.
„Im Gründungskontext war die Vereinslandschaft der Mannschaften mit Türkeibezug sehr heterogen“, sagt Metzger. „Ähnlich wie die polarisierte Migrantengruppe zu der Zeit hat man sich auch als Verein politisch rechts oder links, religiös oder säkular verortet.“ Heute spiele das kaum noch eine Rolle: „Generell sind es ganz normale Vereine mit einer ganz normalen Vereinskultur, die allenfalls über das übliche deutsche Klischee von Bier und Bratwurst hinausgeht.“
Das bestätigt Erdal Güncü, sportlicher Leiter von BSV Al-Dersimspor: „Viele junge Spieler wissen gar nicht mehr, wie der Verein ursprünglich geprägt war.“ Al-Dersimspor ging aus der Fusion zweier alevitischer Vereine hervor und rekrutierte einen Teil seiner Mitglieder aus dem Bekanntenkreis der alevitischen Gemeinde. Heute hat das Team noch drei, vier Spieler, deren Väter schon an gleicher Stelle spielten.
Ein bisschen Kult
„Für uns ist das schon ein bisschen Kult, das versuchen wir beizubehalten“, sagt Güncü. Insgesamt sehe man sich aber längst als Kreuzberger Verein, in dem Religion und Herkunft nachrangig seien. Die Selbstwahrnehmung kollidiert offensichtlich mit der Außenwahrnehmung: „Seit Jahren versuchen wir uns zu internationalisieren, aber es ist schwierig, mehr Spieler ohne Migrationsgeschichte anzusprechen.“ Zur neuen Saison steht mit Kai Brandt erstmals ein Trainer ohne Migrationshintergrund an der Linie.
Teil des Problems ist die Berichterstattung über Vereine mit Türkeibezug, die oft nur stattfindet, wenn es zu Ausschreitungen kommt oder man O-Töne zu politischen Themen sucht. „Während der Özil-Debatte bekam mein Bruder bei Türkiyemspor ständig Anfragen, fast nie ging es um Fußball“, sagt Mehmet Matur.
Dabei gäbe es gerade bei Türkiyemspor viel zu berichten. Der Verein, der nach dem kurzen Höhenflug Anfang der 90er im Jahr 2012 Insolvenz anmelden und quasi bei null starten musste, ist für sein soziales Engagement bekannt. Türkiyem hat die größte Jugendabteilung der vier Mannschaften mit türkischem Background, zudem gibt es erfolgreiche Frauen- und Juniorinnenteams. „Mittlerweile spielt halb Kreuzberg bei Türkiyemspor, sodass sie nicht mehr vornehmlich als türkischer Verein wahrgenommen werden“, sagt auch Metzger.
Während sich bei Türkiyemspor und Al-Dersim die Vereinslast auf mehrere Schultern verteilt, ist Türkspor ein klassisches Ein-Mann-Projekt. Der 1965 gegründete Klub gilt als ältester Verein mit Türkeibezug in Deutschland. Nach Jahren in der Kreisliga C und in finanziellen Nöten stieg Metin Yilmaz ein und fusionierte den Verein mit dem griechischstämmigen Verein Hellas Nordwest.
Mit der Fusion verließ der Klub seinen Heimatbezirk Kreuzberg und trägt mittlerweile die Heimspiele am Heckerdamm aus. Der traditionsreiche Name Türkspor sollte Sponsoren für das Projekt gewinnen und türkeistämmige Fans im Nordwesten ansprechen. Dieses Jahr geht es in die dritte Berlin-Liga-Saison mit einem neuen Trainergespann unter Leitung von Coach Oliver Kieback.
Da Türkspor nicht auf gewachsene Strukturen zurückgreifen kann, ist das Transferaufkommen besonders hoch: Bislang wurden 34 Zu- und Abgänge verzeichnet, darunter Neueinkäufe mit Oberliga- und Regionalliga-Erfahrung.
Beim Konkurrenten Al-Dersimspor gab es in den letzten Jahren eine hohe Fluktuation auf dem Trainerposten, der Verein kann jedoch auf einen gewissen Spielerstamm zurückgreifen. Ohnehin sieht der sportliche Leiter Erdal Güncü den Konkurrenzkampf nicht so verbissen und verzichtet lieber auf teure Transfers: „Klar, unser Ziel ist der Klassenerhalt, aber in erster Linie wollen wir nachhaltig arbeiten und mehr in den Jugendbereich investieren.“
Das sei aber gar nicht so einfach: Seit Jahren versucht Al-Dersimspor vergeblich, die Genehmigung für den Bau einer Geschäftsstelle in der Nähe des Heimplatzes zu bekommen. Der Platz ist sicher einer der spektakulärsten der Stadt: Direkt am Askanischen Platz spielt man zwischen der Portalruine des Anhalter Bahnhofs und dem Tempodrom in einem Kunstrasen-Käfig. Weitere Räumlichkeiten fehlen, zum Umziehen müssen die Spieler ein paar Hundert Meter in eine Schule gehen.
„Es ist absurd: Wir müssen unsere Mannschaftsbesprechungen selbst im Winter auf dem Platz machen. Auch für Anmeldungen im Jugendbereich fehlt uns eine Anlaufstelle“, klagt Güncü. Den Kreuzberger Nachbarn Türkiyemspor plagen an der Blücherstraße ähnliche Probleme. Für BFV-Präsidialmitglied Mehmet Matur eine Schande: „Die alteingesessenen deutschen Vereine haben ihre festen Plätze mit Geschäftsstelle und Vereinsheim. Türkiyemspor und Al-Dersimspor leisten seit Jahrzehnten wichtige Jugendarbeit in Kreuzberg, bekommen aber keine Unterstützung von Bezirk und Sportamt.“
Wie wichtig gute Jugendarbeit ist, weiß man auch einen Steinwurf entfernt im Waldeckpark bei Hilalspor. Der Verein gründete sich in den 1980er Jahren dezidiert, um Kreuzberger Jugendliche von der Straße zu holen und ihnen eine sportliche Perspektive anzubieten. Im Namen steckt mit dem Wort „hilal“, türkisch für Halbmond, bereits der Hinweis auf die religiösere Ausrichtung des Vereins.
„Hilalspor wollte die Möglichkeit schaffen, den Sport im Einklang mit religiösen Vorschriften leben zu können. Dazu gehört die Rücksichtnahme im Fastenmonat Ramadan und der Verzicht auf den Ausschank von Alkohol im Vereinsheim“, sagt Politologe Metzger, der den Klub eine Saison begleitet hat. Zwar spielt auch hier die Anfangsidentität mittlerweile eine geringere Rolle, vielen gilt der Verein aber weiter als islamisch-konservativ.
Ein Blick auf die Kaderliste zeigt ein sehr homogenes Bild mit fast ausschließlich türkischen Spielernamen. An der Seitenlinie steht mit Marco Wilke ein erfahrener Berlin-Liga-Coach, der nach eigenen Angaben die familiäre Atmosphäre schätzt. Zur neuen Saison wurde eine Kooperation mit dem Regionalligisten Berliner AK gestartet, der von nun an junge Spieler mit Perspektive bei Hilalspor Spielpraxis sammeln lassen möchte. Der Klub ist seit Jahren Berlins erfolgreichster Verein mit Türkeibezug und verpasste zuletzt mehrfach knapp den Aufstieg in die dritte Liga.
Kreuzberger Wurzeln
Hilalspor, Türkiyem, Türkspor und Dersimspor eint ihr Saisonziel: Kreuzberger Meister zu werden – also die anderen drei Teams zu schlagen. Obwohl laut Eigenaussage keine gewachsene Rivalität zwischen den Vereinen herrscht, ziehen die Derbys mit Abstand die meisten Zuschauer*innen an. Bei solchen Spielen würden sich selbst die alten Türkspor-Anhänger an ihre Kreuzberger Wurzeln erinnern, sagt Mehmet Matur. Hinzu kommt die sportliche Brisanz, da bis auf die aufgerüsteten Türkspor die anderen drei Teams wohl bis zum letzten Spieltag um den Klassenerhalt werden kämpfen müssen.
Von Brisanz ist beim Derby Türkiyem–Hilalspor nichts zu spüren. Die Ränge leeren sich schon zur zweiten Halbzeit, einige Zuschauer schauen nebenbei auf dem Handy das Champions-League-Qualifikationsspiel von Başakşehir Istanbul. Oder sie diskutieren über den Fall Tönnies. Die Abenddämmerung legt einen grauen Schleier über das Spielfeld, der nur durch die neonfarbenen Schuhe der Spieler durchbrochen wird.
Dann wird die Partie entschieden, wie eine solche Partie nur entschieden werden kann: Nach einer Ecke köpft Hilalspors Torjäger Mehmet Uzuner den Ball ins Tor, der Aufsteiger fährt die ersten drei Punkte ein. Manchmal ist so ein Kreuzberger Derby eben doch nur ein ganz normales Spiel in der Berlin-Liga.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen