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Digitales Halbwissen

Na, auch Cyberchonder*in? So nennen Fachleute Menschen, die sich im Internet über vermeintliche Krankheiten informieren – mit heiklen Folgen

Jetzt nichts Falsches füttern: Suchbegriffe zum Thema „Krankheit“ Foto: Patrick Pleul/dpa

Von Yasemin Fusco

Es klingt doch geradezu verlockend: Auf dem eigenen Sofa sitzen, statt im vollen Wartezimmer, keine Scheu wegen vielleicht „dummer“ Fragen, und obendrein sind die allermeisten medizinischen Informationen online kostenlos. Bloß: Wer im Internet nach Krankheitssymptomen sucht – oder dem, was er oder sie an Symptomen festgestellt haben will –, landet ziemlich oft bei völlig falschen ­Diagnosen: Der Kopfschmerz am Morgen kann – nach der Konsultation von „Dr. Google“ – ja nur ein Hirntumor sein, oder? Dann bricht Panik aus bei manchen, die ihre eigenen Rechercheergebnisse für glaubwürdiger halten als das, was die Ärzt*in sagt.

Solche Menschen nennt man „Cyberchonder“, eine leicht modisch klingende Wortneuschöpfung aus Cyber – vergleiche Cyberspace – und Hypochonder. Wissenschaftler*innen, die sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigen, sprechen stattdessen von „internetassoziierten Gesundheitsängsten“.

Problem für Praktiker*innen

Dass diese Ängste in der Praxis ein echtes Problem sein können, das hat eine Befragung von insgesamt 844 Allgemeinmedizinern und Allgemeinmedizinerinnen in Hessen ergeben, durchgeführt vom Zentrum für Allgemeinmedizin und Geriatrie des Universitätsklinikums Mainz und dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Julian Wangler. Demnach sehen die Mediziner*innen vor allem die negativen Auswirkungen der Online-Selbstinformation, und beinahe jede*r fünfte Befragte – 18 Prozent – hat schon erlebt, dass „ausgeuferte Internetrecherchen“ sogar zum Abbruch eines Betreuungsverhältnisses führten.

„Ein zweischneidiges Schwert“ nennt Wangler solche Recherchen. Demnach stellten die befragten Mediziner*innen fest, dass ihre Patient*innen echtes Wissen gesammelt und möglicherweise auf einem bestimmten Gebiet ihren Kenntnisstand erweitert hätten – aber: „Gleichzeitig steigt mit zunehmend ausufernder Recherche die Gefahr, dass es sich um gefährliches Halbwissen handelt.“ Die Patient*innen gerieten etwa an unseriöse Seiten oder ließen sich zu voreiligen Schlussfolgerungen verleiten – bis hin zur „Diagnose“, an einer tödlichen Erkrankung zu leiden.

Apropos Teufelskreis: Wer erst mal angefangen hat, seine Symptome zu ergoogeln, aber nicht in der Lage ist, seriöse Information von weniger seriösen zu unterscheiden, von falschen Heilversprechen oder schlichten Lügen: Der oder die füttert die Suchmaschine und ihre Algorithmen so, dass die einen dann auch bei kommenden Such-Sessions wieder auf unseriöse Seiten lenkt.

In der Befragung sehen fast drei Viertel der Mediziner*innen – 73 Prozent – das Aufkommen internetassoziierter Gesundheitsängste als zunehmendes Problem für eine ohnehin schon angespannten Versorgung. Eine Folgerung der Studienautoren: Die ja kaum mehr aus der Welt zu schaffende Online-Informationssuche solle im Gespräch in der Praxis wenigstens „aktiv“ thematisiert werden, um „möglichen negativen Auswirkungen“ auf das Verhältnis zwischen Ärtz*in und Patient*in vorzubeugen. Auch die Anamnese, also die Erhebung einer Krankenvorgeschichte, solle um die „Dimension der Online-Informationssuche“ erweitert werden.

Die meisten Patient*innen recherchieren laut der Befragung bestimmte Krankheitsbilder (91 Prozent) oder spezielle Symptome (89 Prozent). Interessant: Ein Interesse an Informationen zu einer gesünderen Lebensweise oder auch Zusatzleistungen spielen demnach eine untergeordnete Rolle. „Um ganz korrekt zu sein“, schränkt Wangler ein, „müsste man jetzt auch Patientenbefragungen zurate ziehen und unseren Ergebnissen gegenüberstellen.“

„Wissen weitergeben“, empfiehlt der Facharzt

„Angst ist die letztliche Ursache der Hypochondrie und diese Krankheit weist viele Gemeinsamkeiten mit chronischen Rückenschmerzen auf“, sagt der Hamburger Orthopäde Matthias Soyka (siehe Interview unten): Er „würde es sehr hilfreich finden“, sagt der Rückenspezialist, wenn erfahrene und niedergelassene Kolleg*innen ihr Wissen auf Youtube oder – besser – „in Büchern weitergeben würden“. Soyka betreibt eine Praxis, schreibt auch Bücher – und hat seine ersten Youtube-Videos schon fertig auf der Festplatte liegen.

Krankenkassen oder auch mit Gesundheit betraute Politiker*innen sind noch nicht auf dieses Thema angesprungen. Auf der Website der Techniker-Krankenkasse in Hamburg etwa findet sich zwar ein Hinweis auf „Internetrecherche als Angstverstärker“, aber darüber hinaus scheint Cyber- bloß Hypochondrie unter digitalen Vorzeichen zu sein – und als solche behandelbar.

Alles bloß Kopfsache? Ärzt*innen mit der Zusatzqualifikation Psychotherapie oder Psychoanalyse gaben Wangler zufolge in der Befragung deutlich häufiger an, dass Hausärzt*innen sich stärker als Ansprechpartner*innen für internetinformierte Patient*innen positionieren sollten als jene ohne entsprechende Weiterbildung (87 Prozent gegenüber 61 Prozent).

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