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Archiv-Artikel

Werftarbeiterin, ein Leben lang

Beim Streik ließ sie Lech Wałęsa den Vorsitz, „weil er ein Mann war“Heute ruft sie: „Wałęsa ist ein Verräter.“ Zur offiziellen Feier will sie nicht gehen

AUS KRAKAU GABRIELE LESSER

Im Saal des Krakauer Piłsudski-Hauses brandet Beifall auf. „Anna, Anna!“, rufen die ZuhörerInnen und klatschen rhythmisch Beifall. Die kleine Frau auf dem Podium lächelt stolz. Sie verneigt sich leicht. Der Jubel geht in Standing Ovations über. Doch Anna Walentynowicz, die in Polen als „kleinste Kranführerin der Welt“ bekannt ist, scheint abwesend zu sein. Die 1,53 Meter große Frau, die am Montag 76 Jahre alt wird, scheint durch die Versammelten hindurchzusehen.

Vor 25 Jahren, im August 1980, hatten ihr schon einmal die Massen zugejubelt. 12.000 streikende ArbeiterInnen der Danziger Leninwerft forderten damals „Anna soll reden!“ Die Werftleitung hatte die Kranführerin, die sich durch keine Schikane einschüchtern ließ, entlassen, weil sie sich lautstark für die Rechte der Belegschaft eingesetzt hatte. Lech Wałęsa, der Elektriker und spätere Held der Solidarność-Bewegung, übernahm die Streikführung. Damals dachte Walentynowicz: „Er ist ein Mann. Das ist besser so. Da wird der Streik auch ernst genommen.“ Doch Wałęsa wollte den Streik schon am 18. August beenden. Schließlich sollten die Löhne erhöht, die entlassenen ArbeiterInnen wieder eingestellt und ein Teuerungszuschlag eingeführt werden. Die meisten verließen daraufhin die Werft und gingen nach Hause. Nur ein paar „Radikale“ streikten weiter – aus Solidarität mit den anderen Betrieben an der Ostseeküste und weil noch nicht alle Forderungen erfüllt waren. Anna Walentynowicz, das Ehepaar Andrzej und Joanna Gwiazda und der Chefredakteur der Untergrundzeitung Der Arbeiter der Küste, Bogdan Borusewicz, wollten vor allem eines: freie und von der Partei unabhängige Gewerkschaften. Tatsächlich wurde der Streik wieder aufgenommen, griff auf immer mehr Betriebe über, bis sich schließlich das ganze Land im Ausstand befand. Am 31. August 1980 hatten „die Radikalen“ gesiegt: Das „Danziger Abkommen“ zwischen dem Streikkomitee und der Partei machte den Weg frei für Solidarność, der ersten freien Gewerkschaft im damaligen Ostblock.

„Anna, Anna!“ Die kleine Frau mit der großen Brille schüttelt unwillig den Kopf. Sie verscheucht die Träume, der Blick wird wieder klar, das Lächeln verfliegt, ein bitterer Zug bleibt zurück. Im Krakau des Jahres 2005 sind es nicht tausend oder zehntausend Menschen, die sie hören wollen. In das heruntergekommene Legionärshaus mit den verstaubten Uniformen aus den Zwanzigerjahren, den vergilbten Fotos polnischer Nationalhelden und den schon vor Jahren vertrockneten Topfpflanzen sind die VerliererInnen der Geschichte gekommen: achtzig, vielleicht hundert der noch immer aktiven „Radikalen“ von damals. Die Welt hat sie vergessen. Auch in Polen weiß kaum noch jemand etwas mit den Namen Walentynowicz oder Gwiazda anzufangen. Wenn Ende August Lech Wałęsa, die Gewerkschaft Solidarność und die Stadt Danzig ein großes Fest feiern, mit prominenten Gästen aus aller Welt, werden die heute verarmten KämpferInnen der ersten Stunde nicht dabei sein.

„Wałęsa ist ein Verräter“, ruft Anna Walentynowicz mit noch immer fester Stimme in den Saal. „Unsere Berater waren Verräter. Am Runden Tisch haben sie 1989 gemeinsame Sache mit den Kommunisten gemacht. Ihre einzige Aufgabe war, uns das Rückgrat zu brechen.“ Sie hält inne und dreht sich zu einem Priester um, der ein großes silbernes Kruzifix um den Hals trägt. „Wałęsa, Mazowiecki, Geremek und wie sie alle heißen, sie sind durch den Verrat reich geworden. Wir aber, die Solidarność-Mitglieder der ersten Stunde, haben unsere Arbeit verloren. Heute stehen drei Millionen Arbeiter auf der Straße. Was gibt es da zu feiern? Dafür haben wir nicht gekämpft!“, sagt sie.

Der Priester nickt eifrig. Dass Polen heute ein freies Land ist – demokratisch und souverän – zählt hier nicht. Auch das enorme Wachstum, der steigende Lebensstandard sind keine Argumente. Die VerliererInnen der Wende sehen nur das eigene Elend, die Arbeitslosigkeit und unerfüllte Hoffnungen. Schuld an der Misere im Lande sei der Runde Tisch, an dem sich 1989 Solidarność-Mitglieder und die Kommunistische Partei auf den friedlichen Systemwandel geeinigt haben. Der Kompromiss auf Zeit mit der Formel „Unser Parlament – Euer Präsident“ sei falsch gewesen. „Jaruzelski ist ein Verbrecher“, empört sich Walentynowicz, „aber als Präsident konnte er nicht angeklagt werden. Jetzt ziehen die Staatsanwälte und Richter die Prozesse so lange hinaus, dass er wohl nie verurteilt wird. Da macht mir niemand etwas vor. Das war von Anfang an ein abgekartetes Spiel.“

Noch heute kämpft die einstige Kranführerin der Danziger Werft für Wahrheit, Gerechtigkeit und Arbeiterrechte. Nur klingen die Forderungen jetzt so, als wolle sie zum Urkommunismus. Statt Steuern zu zahlen, sollten die Menschen – egal ob sie arbeiten oder nicht – vom Staat eine monatliche Dividende erhalten, damit sie einkaufen und so die Wirtschaft am Laufen halten könnten. Die ausländischen Banken müssten Polen das Kapital zurückgeben, sodass Kredite wieder zinslos vergeben werden könnten.

„Aus Sorge um das Vaterland“ –so heißen die Tagungen, die die frühere Solidarność-Aktivistin regelmäßig organisiert. Auch diesmal ist ein Priester dabei, der diese staatliche Geldverteil-Theorie als katholische Soziallehre ausgibt und die Versammelten in ihrem „Kampf um die Wahrheit“ bestärkt. Der Preis für die Wahrheit sei jedoch hoch. Nicht jeder sei stark genug, ihn zu zahlen. Jesus, der den Weg des Martyriums gewählt habe, sei hier Vorbild. „Den wahren Lohn für alles irdische Leiden gibt es erst im Himmel“, tröstet der Priester.

Anna Walentynowicz, Stammhörerin des katholisch-fundamentalistischen Privatsenders „Radio Maryja“, schaut zum Priester. Zu oft ist sie in ihrem Leben enttäuscht worden. Längst sieht sie nur noch Feinde und Verräter. Von den früheren FreundInnen und KollegInnen sind wenige geblieben. Mit Lech Wałęsa, dem alten Kumpel von der Werft, redet sie schon seit 1981 nicht mehr. Dabei ist sie sogar Patentante von Wałęsas ältester Tochter Magda. Doch als er 1983 den Friedensnobelpreis erhielt und zum Arbeiterführer der Solidarność aufstieg, war sie schon fast in Vergessenheit geraten. Während Wałęsa nach der Ausrufung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 für ein knappes Jahr ins Erholungszentrum der kommunistischen Regierung in die Berge kam und dort isoliert wurde, wurde Walentynowicz als Streikführerin verhaftet und zusammen mit vierhundert Frauen in ein Internierungslager gesperrt. Nach der Entlassung kämpfte sie ums Überleben. Und dabei hatte sie wirklich einmal geglaubt, eine „leuchtende Zukunft“ vor sich zu haben.

Denn bevor Anna Walentynowicz zur Streikführerin wurde, war sie gläubige Kommunistin, wie sie in ihrem Buch „Schatten der Zukunft“ schreibt. Ihre Arbeit auf der Werft begann sie als Schweißerin. Sie lernte Lesen und Schreiben, übererfüllte aus Dankbarkeit für die Partei die Norm und warb auf Plakaten als strahlende „Heldin der Arbeit“ für den Aufbau des Kommunismus in Polen. Dass die Parteiführer mit den hehren Idealen nicht viel im Sinn hatten, merkte sie Ende der Sechzigerjahre. Als Kriegswaise träumte sie von der „heilen Familie“, verliebte sich, wurde schwanger – und betrogen. Als sie Jahre später doch noch heiratete, wurde bei ihr Krebs diagnostiziert. Sie überlebte, doch unerwartet starb ihr Mann. Die Werft wurde zu ihrem zweiten Zuhause. Die KollegInnen zur eigentlichen Familie.

Der Regisseur Volker Schlöndorff will nun ihr Leben verfilmen. „Oh mein Gott“, ruft Walentynowicz. Sie sitzt in der Wohnung einer Freundin, schüttelt den Kopf. „Wenn ich schon diesen Namen höre!“ Sie schlägt sich die Hände vors Gesicht. Sie habe aus der Zeitung von dieser Idee erfahren. Weder der Regisseur, noch die Produktionsfirma hätten zuvor mit ihr gesprochen. „Jetzt habe ich das Drehbuch gesehen, es ist grauenhaft! Alles erstunken und erlogen. Sie müssen es neu schreiben. Und ich muss meine Zustimmung geben. Sonst gibt es keinen Film.“