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Die dritte Dimension der Musik

Wenn eine Gruppe von Instrumenten Töne spielt, die jeweils um den Bruchteil eines Tonschritts verschoben sind, entsteht eine Fläche. Das Ensemble KNM führt im Radialsystem Georg Friedrich Haas’ „in vain“ auf

Von Katharina Granzin

Es gibt dieses berühmte Bild des niederländischen Künstlers M. C. Escher, auf dem Treppen zu sehen sind, die auf unentschlüsselbare Weise ineinander verschränkt scheinen. Georg Friedrich Haas hat als Inspiration für seine Komposition „in vain“ Eschers Bilder angeführt, und vor allem das Treppenbild ist es, das beim Hören dieser Musik immer wieder vor dem inneren Auge aufblitzt.

Das innere Auge ist ein merkwürdiges Ding. Je nach Veranlagung ist es ja mehr oder weniger auch beim Musikhören beteiligt, sei es über synästhetische Kanäle oder Assoziationen anderer Art. Es schafft sich sein eigenes Bild zu den Klängen oder eben nicht. Neben diesen individuell erzeugten inneren Bildern hat Musik aber auch eine objektiv gültige, physikalische Qualität.

Jeder von einem natürlichen Schallkörper erzeugte Ton trägt eine Reihe von Obertönen in sich, die ihn gleichsam nach oben verlängern, ihm eine zweite Dimension verleihen. Was Haas’ „in vain“ unter anderem so bemerkenswert macht, ist, dass die Musik hier ziemlich konsequent in die Dreidimensionalität erweitert, also eine echte tonale Räumlichkeit erzeugt wird. Der Komponist erreicht diesen Effekt über mikrotonale Verschiebungen.

Wenn eine Gruppe von Instrumenten Töne spielt, die jeweils um den Bruchteil eines Tonschritts gegeneinander verschoben sind, so entsteht kein Toncluster (d. h. es erklingen eben nicht verschiedene Töne gleichzeitig), sondern quasi eine Tonfläche, deren Obertöne sich ebenfalls entsprechend breit ausdehnen. Dieser Klang ist kein Strich mehr, sondern eine Säule. So entstehen musikalische Bauklötze. Dass es eines großen SpezialistInnentums bedarf, um diese Musik aufzuführen, versteht sich von selbst. Das Ensemble KNM, das im Radialsystem mit Gästen und unter Leitung des Komponisten und Dirigenten Stephan Winkler auftritt, ist seit drei Jahrzehnten auf dem Gebiet der Neuen Musik tätig und gehört zu den wenigen Ensembles, die ein solches Projekt musikalisch stemmen können.

Eine bittere Fußnote zum Konzert sowie zur hauptstädtischen Kulturpolitik ist der Zettel, der dem Programmheft beiliegt und auf dem das Ensemble um Unterstützung bittet, weil sein langjähriger Probenraum im Podewil von der landeseigenen Kulturprojekte Berlin GmbH ohne Ersatzangebot gekündigt wurde.

Womöglich ist das aber eine besonders trickreiche Maßnahme, die MusikerInnen zu künstlerischer Höchstleistung zu inspirieren – denn handelt auf einer tieferliegenden Ebene Haas’ Meisterwerk nicht gerade von der Nichtigkeit menschlichen Strebens? „in vain“, vergebens, ist doch dieses ganze Treppab und dieses bisschen Treppauf. Es führt nirgendwohin – der Titel eine moderne Paraphrasierung der „Vanitas“ (kunsthistorisch emblematisch als Stillleben mit Totenschädel).

Viel Treppab hat Haas verbaut, eilige Abwärtsläufe, oft gestützt durch lang gehaltene Pfeilertöne anderer Instrumentengruppen („in vain“ ist für 24 Instrumente geschrieben, wobei die Instrumentierung vom üblichen Orchesteraufbau nicht wesentlich abweicht). Dies Treppab ist das ohrenfälligste und häufigste Motiv, eine stete Wiederkehr desselben einfachen Musters in zahlreichen Varianten. Dazwischen entstehen viele andere Bauten und Bewegungen, mitunter auch im Dunkeln.

Dies Treppab ist das ohrenfälligste und häufigste Motiv des Stücks

Der Komponist hat die Lichtregie in die Partitur mit einbezogen. Als es zum ersten Mal finster wird, entfaltet sich über lang gezogene, sich aneinander vorbeischiebende Töne eine fast tranceähnliche, meditative Stimmung. Schiffe, die sich nachts begegnen, malen eine horizontal ausgerichtete Klangtapete.

Die zweite Dunkelpassage gegen Ende des einstündigen Stücks ist klangräumlich das genaue Gegenteil und strebt geradezu überambitioniert in die Vertikale. Ein hoch aufgeladenes Obertongeflirre scheint im Stockfinsteren einen riesigen Klangdom zu erschaffen – eine Vorstellung, die durch plötzliche Lichtblitze immer wieder gebrochen wird, wenn im aufzuckenden Scheinwerferlicht unten auf dem Boden das Orchester zu sehen ist. Da ist gar kein Dom. Es sind nur Töne, menschengemacht.

Brutale Schläge vom Donnerblech zerstören schließlich das unsichtbare Meisterwerk, und es beginnt ein musikalischer Krieg, dessen Kampfgetümmel nur allmählich wieder dem friedlichen Treppen- und Säulenbau weicht. (Und dann und wann einem schneebedeckten Berggipfel…)

„in vain“ ist als das erste musikalische Meisterwerk des 21. Jahrhunderts bezeichnet worden. Schwer zu sagen, ob das stimmt; wer weiß, was für großartige Musik sonst noch da draußen ist. Für das einmalige Erlebnis dieses Abends bedankt sich das Publikum aber mit lang anhaltenden Ovationen.

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